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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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die
Möglichkeit eines bequemeren und ungefährlicheren Daseins gegeben hätte,
vielleicht wären sie von innen zugrunde gegangen, hätten sich all dem
überlassen, was in ihrem Wesen polnisch ist, ungebunden, nachlässig. Aber so
hielt sie die Zähigkeit aufrecht, das strenge historische Schicksal, umgeben zu
sein von den großen Raubvölkern, immer verborgen, sich immer mühsam aufrichtend
und immer polnisch, also ein wenig laut, übertrieben, aber zugleich sympathisch
in ihrem menschlichen Streben – ein Volk, das von innen her unmittelbar eine
Nähe zur Musik hat! Daran dachte ich, jetzt, als die Titel der Abendzeitung in
großen Lettern kreischten, dass Warschau gefallen war; und dann an Chopin. Was
konnte ich für die Polen tun? Ich konnte nur in der Sprache der Musik zur Welt
sprechen, und jetzt, da das Röcheln einer tödlich verwundeten Nation in der
menschlichen Welt widerhallte, konnte ich nichts anderes tun, als in einem
europäischen Konzertsaal den edelsten Klang erschallen zu lassen, mit dem
dieses Volk jemals die Stimme erhoben hatte: Chopins Klänge zum Leben erwecken!
Andere mochten über Politik sprechen; in dem Augenblick, in dem die deutschen
Truppen sich auf den Körper eines Volkes geworfen hatten, würde ich in Florenz
die Harfenetüde spielen, das Allegro sostenuto. Und
all die anderen, die zwölf Etüden aus dem Opus 25. Das war alles, was ich tun
konnte. Und das andere Volk, das der Welt absolute Musik gegeben hatte, sollte
in demselben Konzertsaal nach Chopin sprechen, mit den Worten Beethovens. Die Appassionata würde gerade richtig sein als Antwort auf
alles in dem Augenblick, da die deutschen und die polnischen Kanonen donnerten.
Denn irgendetwas musste ich tun; auch der Künstler konnte nicht stumm bleiben,
wenn sich zwei Völker, das polnische und das deutsche, in tödlicher Umarmung
umklammerten. Mochten die beiden Seelen in einem europäischen Konzertsaal
sprechen – zwei Gegensätze, zwei Welten! Und dennoch ist verhängnisvoll eins,
was sie sagen. Sollte ich eine Zugabe geben? Tschaikowski beschwören, damit der
historische Augenblick vollständig würde? Sollte auch der Russe sprechen, wenn
der Pole und der Deutsche mit der Kraft der Musik das überschrien, was die
irdische Leidenschaft so schrecklich hartnäckig leugnete: die Harmonie? In
diesen Minuten im Zug, der mich nach Italien brachte, an dem Abend, an dem
Warschau gefallen war, dachte ich ernsthaft darüber nach. Und ich wusste, dass
das Pathos, mit dem ich mein Vorhaben erklärte, mehr war als eine spielerische
Idee. Es war eine Art Dienst, der Botschafter hatte recht gehabt. Polnische,
deutsche und russische Musik würde ich erklingen lassen in einer Welt, die
jetzt lange nichts anderes mehr würde hören wollen als ihr eigenes
Todesröcheln. Ich faltete die Zeitungen zusammen und zahlte.
    Im Speisewagen hatte man mich erkannt. Die Zeit, in der mir diese Aufmerksamkeit
guttat, war längst vorbei. Man geht durch die Welt wie eine lebendige Reklame,
und eines Tages würgt man vor Ekel bei dieser verdächtigen Popularität. Eilends
ging ich zurück in den Schlafwagen und schloss rasch die Abteiltür. Der Krieg
war sehr weit entfernt, die Nacht friedlich und warm. Der Zug blieb stehen, ich
hörte fremde Stimmen in einer slawischen Sprache sprechen. Wir waren an der
Grenze. Ich löschte das Licht und schlief sofort ein.
    Ein Geräusch ließ mich wieder aufwachen. Beim fahlen Licht der
in die Bettwand eingelassenen, winzigen Nachtlampe sah ich auf die Uhr: halb
vier am Morgen. Der Zug ratterte gerade über eine Brücke oder ein Viadukt, über
der Tiefe schlugen die Räder mit tragischer Kraft. Dann liefen die Schienen auf
einem weichen Damm, und der Reisende spürte über die Eisenstäbe hinweg die
sanftere, kompaktere Unterlage der Erde, der Lärm ließ nach. Wir eilten schon
auf die italienische Grenze zu. Noch drei, vier Stunden, und wir wären in
Triest; ich zog das Lederrouleau hoch und sah durchs Fenster das Meer. Seit
einem Jahr hatte ich das Meer nicht mehr gesehen. Eine tiefe Traurigkeit
übermannte mich. Ich setzte mich auf der schmalen Liege auf und streckte die
Hand nach Zigarette und Feuerzeug aus.
    In diesem Augenblick begann es. Was? Die Krankheit? Oder noch etwas
anderes? In den folgenden Monaten rief ich mir diesen Moment viele Male in
Erinnerung. Ich bemühte mich, ihn

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