Die Schwester
zivilisierte
Welt ist voll von derartigen Frauen, und man kann nicht einmal sagen, dass nur
reiche, verwöhnte, gelangweilte Frauen der wohlhabenden Schichten an dieser
Empfindungslosigkeit, Kälte und körperlichen Taubheit leiden, die sich im
Körper und in der Seele so einer Unglücklichen zu einem echten Abscheu, einer
krankhaften Abneigung entwickeln können. Denn wie viele Arme und Bedürftige
gibt es unter ihnen, und wie unglücklich sind sie! Nicht nur die Bankiersgattin
ist frigide , sondern auch die Frau des
Vizehausmeisters, die Ãrmste, in ihrem unermesslichen weiblichen und
menschlichen Elend, auch Bauersfrauen mit fünf Kindern können kalt und
gefühllos werden in einer Zivilisation, deren gesellschaftliche Ordnung allmählich
jede Spontaneität in den Nerven abtötet. Du weiÃt doch das alles, mit dem
Verstand weiÃt du es! Warum wagst du nicht, es auch mit dem Herzen zu wissen?«
Jetzt antwortete ich nachdenklich:
»Weil ich sie liebe.«
Der Tonfall der Stimme wurde schärfer.
»Das ist nicht wahr!«, rief sie. »Offenbar bist du gekränkt, weil
dieser Körper auch auf deinen Ruf nicht geantwortet hat, ebenso wenig wie auf
den des Ehemannes und all derer, die sich ihm mit ihren Sehnsüchten näherten.
Eine schöne, kalte, lächelnde Puppe inmitten von Büchern und gesellschaftlichen
Erfolgen, wie langweilig ist das! Du hast sie nie geliebt. Gekränkt hast du
eine Rolle angenommen, die Rolle des selbstlosen Freundes, weil du nicht ihr
Geliebter sein konntest. Du hast ihr und dir vorgespielt, dass etwas Edleres,
Ãbermenschlicheres zwischen euch ist als im Allgemeinen zwischen Männern und
Frauen. Du lügst, armselige Figur! Deine Eitelkeit hat sich in diesem
Seidennetz verfangen!«
So sprach die Stimme. Ich schwieg und beobachtete das Gepäcknetz, das
Namensschild meines Koffers tickte mit den gleichmäÃigen Bewegungen eines
Pendels.
»Ja«, sagte ich ruhig und gehorsam. »Daran ist viel Wahres. Diese
Frau ist tatsächlich krank. Und trotzdem war ich der einzige Mann in ihrem
Leben, der das wunderschöne Körpergewebe dieser kranken, kalten Schönheit mit
Empfindungen durchdringen, der in diesen toten Nerven Erregung auslösen konnte,
der eine Flamme in diesem Körper entfacht hat, Gefühle, Unruhe, eine Art Leben.
Auch das ist die Wahrheit. Und diese Macht hat mich an sie gebunden; vielleicht
so wie den Arzt seine Fähigkeit an den Kranken bindet, den nur er heilen, nur
er am Leben erhalten kann.«
Die Stimme erwiderte ungeduldig:
»Geschwätz! Larifari! Ein Mann kann nur auf eine Weise auf eine Frau
wirken: durch seine Gefühle, mit seiner körperlichen und geistigen Kraft.
Entweder sie nimmt dieses Verlangen und diesen Willen mit Leib und Seele und
demütig an, oder man muss sie verlassen.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich habe sie doch verlassen«, entgegnete ich. »Du siehst doch, ich
reise. Jetzt sehe ich sie drei Wochen nicht, und am Ende des Herbstes gehen sie
nach Griechenland. Vielleicht sehe ich sie nie wieder.«
Jetzt schwieg die Stimme. Aber nun antwortete ich ihr, ohne dass sie
Fragen stellte.
»Denn weiÃt du, die Musik hatte eine Wirkung auf sie. Dies war die
einzige irdische Macht, die wirklich eine Wirkung auf sie hatte. Und deshalb
konnte ich dieser traurigen Geliebten trotzdem etwas geben: die Musik. Manche
Männer lieben mit dem Körper, andere mit Geld oder mit der Seele. Ich habe mit
der Musik geliebt.«
Die Stimme wusste nichts zu antworten; sie schwieg, als nähme sie
diese Erklärung an, als nickte sie groÃzügig.
»Dies war das Sinnliche in unserem Verhältnis, die intime
Verbindung, die stärker war als jede körperliche Liebesbeziehung. Du, der du
alles weiÃt und vom jenseitigen Ufer zu mir sprichst, weiÃt gewiss auch, welch
schreckliche Kraft die Musik ist! Sie ist stärker als ein Kuss, ein Wort, eine
Berührung. Was man mit dem Körper und der Seele nicht mehr sagen kann, sagt man
schlieÃlich mit der Musik. Ich, nur ich, konnte zu diesem wunderbaren, kranken
Körper sprechen, wusstest du das nicht? Mit der Musik habe ich zu ihm
gesprochen.«
Die Stimme erwiderte ruhiger, besänftigt:
»Das stimmt. Die Musik ist eine schreckliche Kraft. Aber man darf
diese Kraft nicht für irdische Ziele nutzen. Auch Prometheus wurde bestraft,
weil er das Feuer aus dem Himmel stahl. Mit der Musik
Weitere Kostenlose Bücher