Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
Vom Netzwerk:
ich es. Wann war er weggeblieben? Ich wusste
keine Antwort. Im Üben, in der handwerklichen Vervollkommnung, in der
Vollständigkeit der Einzelheiten hatte ich die Musik aus den Augen verloren:
Ja, es lebten nur wenige Menschen, die der Musik so unparteiisch und treu
dienten wie ich, mit einem Selbstbewusstsein, das jede körperliche und geistige
Fähigkeit aufopferte – aber was das Göttliche an der Musik ist, das Erlebnis,
hatte ich verloren. Seit zwanzig, dreißig Jahren, nein – ich war entsetzt! –
seit vierzig Jahren jeden Tag drei, vier Stunden üben. Seit vierzig Jahren
jeden Tag »Musik«, bewusst, seit vierzig Jahren jeden Tag Fingerübungen, seit
vierzig Jahren jeden Tag etwas von dem wirklichen Inhalt eines Stückes
verstehen und zugleich sachlich bleiben: nicht ärgerlich werden, wenn das forte erklingt, nicht sentimental, wenn das piano maunzt. Seit vierzig Jahren jeden Tag etwas ins Geistesgebäude
der Musik schnitzen, es vervollkommnen. Und dabei vom Vollkommenen abirren.
Aber ist nicht der Dienst an den Einzelheiten das Größte? Die Welt weiß nicht,
was dieser Dienst kostet. Wer mit schroffen Worten vom Undank der Welt spricht,
hat recht, die Weisen haben recht, die mahnen, dass der Tourist, der sich für
den Tempel der Jungfrau Athene begeistert, nur die dorischen Säulen des
Parthenons bewundert und dass es unter Millionen vielleicht einen gibt, der
nicht zu faul ist, sich eine Leiter bringen zu lassen, in die Höhe zu steigen
und die Vollkommenheit der Friese und Nebenfiguren des Tempels zu untersuchen,
in die Phidias ebenso alle Geheimnisse seiner Kunst eingebaut hat wie in die
stattliche und überzeugende Theatralik der feierlichen Statue der Göttin. Die
Kunst ist immer die Kunst des Details. Bach ist nicht nur das »Ganze«, das uns
erschüttert und bis ins Mark fährt, sondern auch noch die winzigste Einzelheit,
die vollkommene Anordnung der allerkleinsten Elemente einer Fuge. Ich hatte dem
Detail gedient. Hätte ich etwas anderes tun können? Das »Erlebnis«, das immer
wirkt, als erschiene Gott unter Donnergrollen inmitten himmlischer Nebelwolken,
konnte für andere doch nur Vision und Wirklichkeit werden, wenn ich, der
Vermittler, der Ausführende, den Details diente und auf das Erlebnis
verzichtete. Und Jahre und Jahrzehnte waren über der Vervollkommnung vergangen,
und dabei war ich immer weiter verarmt. Alles hatte ich für die Einzelheiten
hingeben müssen. Denn nicht nur ich spielte Klavier, sondern auch meine Hände,
mein Oberkörper, dessen Haltung ich erziehen musste, wie ein Meisterreiter
seinen Körper zur Disziplin erzieht, zur Reglosigkeit, zur restlosen
Konzentration der Kräfte, wenn er nicht will, dass ihn das Pferd im Augenblick
des großen Sprunges über dem Abgrund abwirft. Die Hand, der Körper, die
Lebensweise – seit Jahren griff ich nur schuldbewusst dann und wann zu einem
Glas Wein, denn ich wusste, dass ich es am nächsten Tag würde bezahlen müssen,
dass ich eine Viertelstunde länger mit dem schwarzen Ungeheuer würde ringen
müssen, mit dem Klavier, wenn ich es zähmen wollte –, alle Verlockungen, alle
Möglichkeiten der Welt waren nur Zubehör zum Dienst gewesen. Und manchmal
spielte ich schon erträglich Bach oder Chopin – erträglich? Der Saal
applaudierte, die Kritiker waren begeistert. Aber das waren alles
Missverständnisse. Denn nur ich wusste, was ich dem Detail noch schuldig blieb,
für das ich nicht stark, aufmerksam, opferbereit genug war, nein, das konnte
nur ich wissen. Es gibt keinen hoffnungsloseren Weg als den zur Vollkommenheit;
jeder Schritt eröffnet neue, unüberschaubare Weiten. Man erschrickt beim
Anblick dieser Perspektiven und weiß, dass man weder zurückweichen darf noch
ausruhen, weil man sonst abstürzt. Jetzt war ich abgestürzt. Das Erlebnis war
irgendwo zurückgeblieben auf diesem gefährlichen Weg, denn die Musik war nicht
mehr Erlebnis für mich, sondern eine übermenschliche Zwangsarbeit. Aber
empfindet nicht jeder Künstler so, wenn es auf das Ende zugeht? Empfand nicht
auch Michelangelo so, als er die Pietà schuf, die
hier in der Nähe stand, in Florenz, in einer Kirche? Es wäre an der Zeit
gewesen, mich auf den Weg zu machen und Florenz und die Pietà zu besichtigen.
    Aber ich regte mich noch immer nicht. Als hätte man mich niedergeschlagen.
Vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher