Die Schwester
Verurteilte den Henkern übergeben wird. Es würde
gar nicht schlecht sein, auszuruhen. Aber solange diese Finger Chopin
ausdrücken konnten, hatte ich kein Recht, mich zu erholen.
Das Haustelefon klingelte. Ich wurde im Foyer erwartet. Noch immer
stand ich vor dem Spiegel. Ich betrachtete mein weiÃes Gesicht, als wollte ich
mich von jemandem verabschieden. So war ich gewesen. Jetzt war ich krank; nicht
krank wie so oft im Leben, wenn mich Müdigkeit und Schwäche in Versuchung
führten, mich den Folgen eines widrigen Wetters oder Essens hinzugeben. Ich war
anders krank, als hätte man mich vergiftet. Das tiefste Gefühl jeder groÃen
Krankheit ist dieses Vergiftetsein, so hatte ich es vor Langem gehört. Hatte
ich etwas gegessen oder getrunken, was mir geschadet hatte? Ich wusste nichts
davon. Dieses Vergiftetsein spüren nicht nur all jene, die Opfer der
Giftwirkung eines verdorbenen organischen oder chemischen Stoffes werden; so
beginnen auch Lungenentzündung, Krebs, Herzkrankheiten und alle Arten von
Erkrankungen, bei denen ein Mensch spürt, dass jetzt eine wesentliche Veränderung
mit ihm vorgeht. Ich erinnerte mich an die Worte eines klugen Arztes, der
einmal sagte, dass er niemals so um einen Patienten besorgt sei, wie wenn
jemand in die Praxis komme und sage: »Herr Doktor, mir fehlt nichts, ich fühle
mich nur nicht wohl.« Dieses »ich fühle mich nicht wohl«, ehrlich und mit
voller Betonung gesagt â und ein guter Arzt wittert mit dem Gehör eines
Musikers, ob ein eingebildeter Kranker so jammert oder jemand in tiefster Seele
beklommen so spricht â, ist ein verdächtigeres Symptom als alles, was
maschinelle und chemische Untersuchungen zeigen können. Dieses tiefe und
elementare Gefühl, vergiftet zu sein, ist gleichbedeutend mit dem Verhängnis.
Jetzt erinnerte ich mich an eine Nacht, in der ich mit einem berühmten
Chirurgen lange darüber gesprochen hatte, in einem Salon inmitten von Menschen
in Abendkleidern, in einer Ecke; der berühmte Arzt lächelte sonderbar, als er
das sagte, und befühlte sich durch das Frackhemd mit der Hand die Herzgegend.
»Eigentlich«, sagte er ruhig, »fühle ich mich derzeit auch nicht gut. Aber wenn
ich zum Arzt ginge, könnte ich die Beschwerden nicht aufzählen. Mir fehlt
nichts.« Er lachte wissend und spöttisch. »Ich fühle mich nur nicht wohl.
Trinken wir ein Glas Sekt.« Er griff nach dem Sektglas. Drei Monate später
starb er; ein Herzinfarkt, die Berufskrankheit der Chirurgen, raffte ihn dahin.
Ja wirklich, ich bin vergiftet worden. Ich stand vor dem Spiegel und hörte die
spöttische Stimme des Professors. Aber eineinhalb Stunden hält das Ganze noch,
dachte ich und sah auf die befrackte Gestalt im Spiegel. Ich nahm den
Ãberzieher, ging langsam die Treppe hinunter und machte mich auf den Weg, um im
WeiÃen Saal des Palazzo Pitti Chopin und Beethoven zu spielen. Auf der
untersten Treppenstufe hörte ich schon die Anfangstakte der Harfenetüde.
Vom Konzert erinnere ich mich an einen rotsamtenen Damenhut und
ein Frauengesicht, das unter dem Hut mit der schreienden Farbwirkung
stupsnasig, blass und aschig leuchtete. Es war ein hinreiÃendes Gesicht. Der
Hut schwamm mitten in dem weiÃen und goldenen Schmuck des Saales wie auf dem
Bild eines französischen Malers vom Anfang des Jahrhunderts jener gewisse
lebendige Farbtupfer, der keinerlei thematischen Sinn hat und doch der
wohlerzogenen Langeweile einer Landschaft oder eines bürgerlichen Stilllebens
eine angenehme Stimmung und lebendigen Schwung verleiht. Ich setzte mich ans
Klavier, beugte mich mit starrem Oberkörper über die Tasten und sah in diesem
Augenblick die Frau mit dem roten Hut. Ich empfand groÃe Sicherheit. Die Welt
war weit weg, alles war neblig und schwebend; aber der rote Fleck leuchtete wie
eine Signallampe. Mir kann nichts besonders Schlimmes passieren, dachte ich,
was auch immer in diesem neuen Zustand geschieht, der das Leben seit einigen
Stunden für mich ist, ein Blick auf den roten Hut, und ich weià sofort, wo ich
bin! Kalte, funkelnde Flammen glänzten im Saal. Ich spürte die Menge im Licht,
wie so viele Male zuvor in den Augenblicken, wenn plötzlich tausend Menschen
verstummten. Jetzt warteten sie auf die Musik. Jetzt hatten sie verstanden,
wozu sie die Karten gekauft, wieso sie ihr Zuhause verlassen und dunkle
Kleidung angezogen hatten. Hals
Weitere Kostenlose Bücher