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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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eine tiefe Ruhe breitete sich in
mir aus. Ich verstand, dass der einzige Sinn meines Lebens der Dienst an dieser
klingenden Harmonie war, dass jetzt alles in Ordnung und an seinen Platz kommen
würde, weil ich meine Aufgabe erfüllt hatte; ich hatte der Musik treu gedient,
niemals bewusst gegen die Harmonie verstoßen und mit aller Kraft meines Körpers
und meiner Nerven, meines Verstandes und meines Willens ausgedrückt, was die
Musik sagen wollte. Aber dann ist ja alles gut so, dachte ich und schloss die
Augen wie jemand, der ein schweres Problem gelöst, eine endgültige Frage
beantwortet hat und nun erschöpft einschläft. Was konntest du anderes tun?
Nichts anderes konnte ich im Leben tun, antwortete ich mir selbst. Ich durfte
nicht schwach, faul, oberflächlich und auch nicht feige sein, weil ich die
Musik verstehen und ausdrücken musste, dafür lebte ich auf Erden. Karriere,
Dienst, Übung, all das war nur erträglich gewesen, weil ich der Welt die Musik
wahrnehmbar machen musste – dies war meine Aufgabe –, von Zeit zu Zeit musste
ich der Welt liefern, was in den Seelen von Mozart, Bach, Gluck, Chopin und
Beethoven zu Musik gereift war. Es war ganz einfach. Und jetzt? Nun, jetzt
würde das ›Andere‹ beginnen. Offenbar war es mit mir zu Ende. Es ging mir wie
jemandem, der verblutet und weiß, dass ihm niemand helfen kann. Schmerzen
empfand ich nicht. Wie anders auch dies ins Leben kommt, mit welch wunderbarer
Einfachheit anders, als es sich der versuchte Mensch in kleingläubigen Stunden
von Furcht und Beklemmung vorstellt. Mir tat nichts weh, ich fürchtete mich vor
nichts. Wenn ich sehr gewollt hätte, hätte ich mich von dieser Liege erheben
können, der Telefonhörer war in meiner Nähe, ich hätte zu Hause anrufen können,
meine Freunde um Hilfe bitten. Um Hilfe, wen? Einen Arzt? Konnte mir ein Arzt
noch helfen? Nein, das wusste ich ganz sicher. Sollte ich E. anrufen oder ihren
Mann? Aber sie waren ja schon am jenseitigen Ufer, an dem Ufer, das ich
verlassen hatte. Meine Freunde? Ich hatte keine Freunde. Ein Künstler hat
niemanden, weil er nicht teilen kann, all seine Aufmerksamkeit, alle Kraft
seiner Empfindungen gehört unteilbar der Aufgabe, für die er ausersehen ist.
Ich konnte nichts tun, ich musste still bleiben. Und vielleicht war diese Lage
gar nicht einmal so schlecht, diese gelähmte Ohnmacht, aus der mich keine
menschliche Kraft mehr herauszuheben vermochte. Jetzt konnte ich endlich
ausruhen. Vielleicht war dies das letzte Ausruhen? Alles hing davon ab, ob ich
noch jemandem oder einer Sache etwas schuldig war. Man lebt, arbeitet und wirkt
in der Welt, solange man jemandem etwas schuldig ist. Ich hatte gedient, und
jetzt begann ich plötzlich zu beobachten. Ich hatte das Gefühl, ich sei in
großer Dunkelheit umhergeirrt und sähe jetzt endlich Licht, irgendwo in großer
Entfernung. Als wäre ich endlich an eine Stelle gelangt, von der aus ich ein
Ziel sähe, auf eine Erklärung hoffen durfte. Hatte ich gedient? Ja, ich hatte
treu und redlich gedient. War der Musik immer näher gekommen, mit immer
sichererer Hand hatte ich dieses sonderbare, wilde, mähnige Geistesphänomen
erfasst, das unaufhaltbar ist; immer mehr Kunstgriffe, fachliches Verständnis,
immer tiefer die Sicherheit des Gehörs, und der Anschlag mit jedem Jahr
selbstbewusster. Es war zu Ende mit mir, wieso sollte ich bescheiden sein; es
lebten nur wenige Menschen auf der Welt, die das, was an der Musik greifbar und
ausdrückbar ist, selbstbewusster, geübter, disziplinierter fassten und
ausdrückten … und auf einmal begriff ich, dass ich mich verirrt hatte. Kalte
Wellen überfluteten meinen Körper. Ich lag reglos da und spürte, wie sich die
Wellen dieses gereinigten Selbstbewusstseins in meinem Körper ausbreiteten. Wie
jemand, der in der Eiswüste erfriert und keine Lust mehr hat, sich zu bewegen,
der aber alles versteht und sieht: den Weg, der ihn dahin geführt, die Absicht,
die ihm diesen Weg gewiesen hat. Mich »schauderte« nicht, nein, aber ich lag
reglos, in kalter Starre da und beobachtete. Ich begriff, dass ich mich gerade
von dort entfernt hatte, wo ich sicher und selbstbewusst vorankam. Denn ich
wusste alles über die Musik, kannte jeden Griff und jeden Zusammenhang, aber
der Sinn der Musik, der nicht Kunstgriff ist, sondern Erlebnis, war aus meinem
Leben verflogen. Jetzt verstand

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