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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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mir die Hand. »Sie möchten sich sicher ausruhen, Maestro.«
    Ich protestierte kraftlos, sie verabschiedeten sich mit Hitlergruß,
und einen Augenblick später war ich allein in dem großen Raum.
    An die folgenden Stunden erinnere ich mich nur ungenau. Im Ausbruch
einer großen Krankheit liegt etwas Elementares, wie in allem, das von der Natur
ausgeht. Es war wirklich ein »Ausbruch«, wie wenn ein Mensch leidenschaftlich
zu reden oder zu handeln beginnt, wenn ein Fluss aus seinem Bett tritt, wenn
ein Berg sich öffnet und Feuer und Verhängnis speit. Meine Gastgeber waren
gegangen, aber ich hatte nicht die Kraft, mich noch einmal ans Fenster zu
stellen und das Entzücken auszukosten, das der Anblick von Florenz dem
Schwärmenden in der Stunde der Ankunft bietet. Ich war allein geblieben und
stand mitten im Zimmer, lange, reglos, wie wenn ein Mensch sich auf einmal
allein, unselig allein, im Universum wiederfindet. Er versteht noch nicht
genau, was geschehen ist – ist eine Bombe gefallen, das Dach eingestürzt, wütet
ein Erdbeben, oder wurde er angegriffen und von einer Kugel, einem Stich, einem
Schlag getroffen? –, er begreift nur, dass die Menschen in diesem Augenblick
bereits anderswo sind, irgendwo am jenseitigen Ufer, und dass er vollkommen
allein geblieben ist. So war auch ich allein geblieben, in Florenz, der
liebenswürdigen und gastfreundlichen Stadt, ab der ersten Stunde meiner
Ankunft. Allein in der Stadt, nach der ich mich mit Herzklopfen gesehnt hatte,
in dem prachtvollen Salon, der jetzt mein Zuhause war und in dem ich nur den
Klingelknopf drücken musste, damit mir eine reiche, große und freundliche Stadt
mit all ihren Fähigkeiten zu Hilfe eilte. Ich musste nur ein Wort sagen, und
man würde mir mit dem Flugzeug den Arzt bringen, der vielleicht helfen konnte.
(Einige Tage später kam der Professor aus Neapel auf Bitte der lokalen
Parteiorganisation und auf Befehl römischer offizieller Kreise tatsächlich mit
dem Flugzeug an mein Krankenbett, er war ein international berühmter Gelehrter
und Fachmann für das Übel, das mich befallen hatte.) Ich wusste, dass ich unter
Menschen war, die mir kameradschaftlich und diensteifrig mit dem Bewusstsein
der gemeinsamen Kultur zu Hilfe eilen würden, und zugleich wusste ich aber
auch, dass ich vergeblich in Europa war, in einer der kultiviertesten Städte
der Welt. Es gab niemanden, der mir helfen konnte. Und über all das hinaus
wusste ich, dass ich allein geblieben war, so allein, als hätte mich die
Menschheit mitten in der Wüste vergessen. Polarforscher mögen sich so fühlen,
wenn sie dem Flugzeug hinterhersehen, das zu ihrer Suche ausgeschickt wurde und
gleichgültig und blind in der Ferne über sie hinweggeflogen ist. Und jetzt ist
alles aus. Sie prüfen ihre Reserven, soundso viel Kraft, Lebensmittel,
Lebenswille, Feuermaterial sind noch da. Und dann? Wie wird es dann? Mir fiel
die Stimme ein, mit der ich mich in der Nacht unterhalten hatte und die aus
sehr großer Ferne gleichgültig gesagt hatte: »Anders.«
    Dieses ›Anders‹ beobachtete ich nun. Ich ging ins benachbarte
Schlafzimmer hinüber, wo mich ein gemachtes Bett erwartete, aber ich hatte
nicht die Kraft, mich auszuziehen. Mitsamt meiner Kleidung legte ich mich auf
den Diwan. Gelbe Seidentapeten bedeckten die Wände, über dem Bett hing eine
Gipskopie des Reliefs von Luca della Robbia: ein Ausschnitt aus der Cantoria . Die sechs dicken, pausbäckigen und barfüßigen
Knaben lachten mich, in leichte Gewänder gehüllt, in ihrer jugendlich
wuchernden, ungezügelten Fülle an, aus ihren geöffneten Mündern entwich die
nicht wahrnehmbare und dennoch klingende, geheimnisvolle Melodie, als hätte der
Künstler den Augenblick der Geburt des Klanges verewigt, als hätte er in dem
kompakten Material jenen Vorgang festgehalten, der geheimnisvoller ist als
alles andere: wenn klingende Harmonie und Melodie durch das fleischige Gewebe
eines menschlichen Körpers in die Welt hinausströmen. Diese Kopie sah ich mir
aufmerksam an. Ja, so wurde die Stimme geboren: Der Mensch sah zum Himmel auf
und sagte unbewusst etwas, was er mit Worten nicht mehr aussprechen konnte. Ich
blickte auf das Relief, das das Mysterium der aus den Kinderkörpern
aufsteigenden klingenden Harmonie abbildete, und plötzlich war mir, als
verstünde ich, wofür alles im Leben war – und

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