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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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und Brust der Frauen leuchteten im kalten
Licht; tausend Körper warteten darauf, dass etwas geschah. Sie umgab ein mir
vertrauter Zauber, den ich ausstrahlte. Als würden die Wellen, die meinem starr
über die Tasten gebeugten Körper entströmten, die Aufmerksamkeit und den Willen
Tausender Körper steuern, so gehorsam verstummten sie. Nein, irgendwo in den
hinteren Stuhlreihen bewegte sich noch jemand, flüsterte. Nein, irgendwo, in
der letzten Reihe, sprach noch jemand halblaut und seufzte dann. Ich regte mich
nicht. All das kannte ich genau, wie man die mechanischen Bewegungen seines
Körpers kennt. Ich will es, und meine Hände oder Füße bewegen sich; ich will
es, und tausend Menschen beginnen beinahe entsetzt, ohnmächtig zu schweigen,
tausend Menschen halten den Atem an. Jetzt gibt es keine andere Macht im Saal
als welche Musik, die die Zuhörer gleichmäßig überwältigt, die auf die Musik
warten und auf mich, der ich sie ihnen heraufbeschwöre – wie Priester und
Gläubige im Augenblick des Opfers sind wir alle Verzauberte derselben
überirdischen Kraft. Denn dieser Augenblick ist ein Fest. Die Menschen hatten
nicht umsonst dunkle Kleider angezogen. Nicht umsonst glitzerten im Saal Gold,
Marmor, das Feuer der Kronleuchter und die dunkle, duftende Pracht des
Lorbeers. Wir hatten uns versammelt, um zu feiern – nicht zum ersten Mal in
meinem Leben spürte ich das, und ich wusste, dass das Vorgefühl in Erwartung
des Festes das Größte ist, was das Leben den Menschen geben kann, und gewiss
das Größte, was es mir gegeben hat. Dieser Augenblick, die Sekunde vor dem
ersten Tonanschlag, diese absolute Spannung des Wartens, die jeden lebendigen Nerv
in diesem Saal durchdrang, das Bewusstsein, dass dieser Zwang zum Starrkrampf
und Schweigen, in dem tausend Menschen den persönlichen Sinn ihres Lebens und
ihre Sorgen vergessen, von mir ausgeht, dies war das Größte, das mir das Leben
gab. Die Musik hatte noch nicht begonnen, aus dem Körper des rätselhaften
Tieres mit den empfindlichen Metallsaitennerven, die einem menschlichen
Nervensystem ähnelten, des Flügels, war noch kein Ton erklungen – doch das Fest
war schon vollkommen. Die Kraft, die genauso alt ist wie die existierende Welt,
hatte uns Menschen hinübergehoben aus dem Alltag in den Zustand des Festes.
Mein Körper würde sich jetzt in sonderbarer Verwandtschaft mit tausend fremden
Körpern vermischen: Ich gab ihnen etwas, das das Blut in ihren Adern unruhiger
kreisen ließ, manche wurden blass, andere erröteten oder senkten den Kopf, ihre
Tränendrüsen traten in Funktion, ihre Hände zitterten. Und ich flog, als hätte
mich dieses mythologische, erhabene Ungeheuer mitgerissen; das Klavier und ich
waren ein Leib wie der sagenhafte Reiter und sein Flügelpferd – vielleicht
kennt niemand anders diese wunderbare Verbundenheit zweier fremder Körper, nur
die Helden der Sagen und ihre Tiere. Wolken, Wetter, Welt, alles bleibt hinter
ihnen, noch ein Augenblick, und die Musik würde alle Trägheit auflösen, die auf
Erden in Worten und Dingen festgehalten ist. Und ich wusste, dass ich diesen
Augenblick zum letzten Mal erlebte.
    Deshalb zog ich ihn in die Länge. Bruchteile von Sekunden
musste ich abwägen, wenn ich nicht wollte, dass sich die beinahe
übermenschliche Spannung, die das Publikum eines Konzertsaales in den
Augenblicken vor den ersten Tönen in Verzückung hält, lockerte. Denn jetzt
begann mit einem Male das Wunderbare – ich, der Künstler, und sie, die Zuhörerschaft
im Saal, nahmen ein gemeinsames Unterfangen in Angriff. Und wenn sie mir nicht
halfen, wenn es auch nur einen einzigen Menschen im Saal gab, den ich nicht in
den Zauber einbeziehen konnte, der an etwas anderes dachte, der eine
Alltagsaufgabe oder Sorge in Gedanken wälzte, dann hatte ich versagt, hier oben
auf der Bühne. Die Musik machten wir jetzt gemeinsam, tausend stumme Menschen
und ein anderer: ich, auf der Bühne. Diese Spannung, die uns nun verband, war
beinahe unerträglich; ich hatte das Gefühl, wenn ich sie noch einen Augenblick
länger warten ließe, würden sie vielleicht revoltieren, auf mich einstürmen und
mich zerreißen. Und in diesem Augenblick, der vollkommen gereift war, den man
nicht mehr hinausschieben konnte, hörte ich, dass meine Finger auf dem
schwarz-weißen Knochenwerk schon die ersten

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