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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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würde jemand hereinsehen, ein Kellner oder ein Journalist,
vielleicht. Und mir ein Glas Zitronenwasser oder eine Arznei bringen.
Vielleicht. Ich war ruhig, und alles, was ich hier notiere, strömte und wogte
nur in meinem Bewusstsein, wie wenn sich jemand ans Klavier setzt und ohne Ziel
Tonleitern spielt, er will keine bekannten Melodien hervorrufen, seine Finger
spielen nur mit der Reihenfolge der Töne. Jetzt war ich also hier in Florenz …
was hatte ich noch einmal hier zu tun? Ich sollte am Abend im Weißen Saal des
Palazzo Pitti spielen. So viel verstand ich noch von der irdischen Lage. Und
jetzt geschah etwas, das ich wahrnahm, als wäre ich aus mir selbst
herausgetreten und beobachtete die Lebensfunktionen eines fremden Körpers. Mein
Körper verstand, dass er noch eine Aufgabe hatte. Mein Körper begann zu leben –
der Professor, der am Abend mein Konzert besuchte und mich in der Nacht aus dem
Hotel ins Krankenhaus brachte, verstand das ebenso wenig wie ich, der ich
meinen Körper beobachtete –, und wie ein verwundeter Soldat, der im letzten
Augenblick erfährt, dass er die Augen noch nicht schließen darf, weil er den
Befehl noch nicht erfüllt hat, richtete ich mich auf. Die Disziplin, die der
tiefste, vielleicht der einzige wirkliche Inhalt des längsten Abschnitts meines
Lebens, meiner vierzig Arbeitsjahre, war, begann noch einmal in meinem Körper
und meinem Nervensystem zu wirken wie ein Reflex in totem Material, durch das
Stromstöße geschickt werden. Mein Körper begann zu funktionieren, weil ich am
Abend Beethoven und Chopin spielen musste, und die Nerven mobilisierten noch
einmal alle Kraftreserven.
    Ich setzte mich auf der Liege auf und läutete. Den Kellner bat ich
um heißen Mocca und viel Zitrone. Aus der Reisetasche nahm ich ein Nervenberuhigungsmittel
und auch eine Art Stimulans, das ich seit mehreren Jahren jeden Abend nahm, an
den Abenden großer Anstrengungen, vor Konzerten oder geselligen
Zusammenkünften. Über dieses Mittel wusste ich nur, dass es die Hirnrinde
stimulierte, und es wirkte tatsächlich, als schüttelte mich ein Stromstoß. Ich
trank heißen, giftigen Mocca, nahm das Stimulans ein, nahm danach ein Gemisch
von drei Zitronen und viel Würfelzucker zu mir, und all das mechanisch und
routiniert wie ein Arzt, der sich mit einem Schwerkranken abgibt; dann ließ ich
über das Haustelefon den Friseur kommen. Das Zimmermädchen zog lautlos die
Fenstervorhänge zu, und das Zimmer füllte sich mit der Dämmerung blasser,
künstlicher Lichter. Florenz verschwand hinter geschlossenen Fensterläden. Der
Friseur erschien unter Verbeugungen und rasierte mich wortlos und unterwürfig,
während die Zimmerfrau mir das Bad bereitete und auspackte. Es war nach sieben
Uhr. Ich badete und kleidete mich an, zog den Frack über und band mir vor dem
Badezimmerspiegel ruhig die weiße Fliege, im starken elektrischen Licht
gründlich mein Gesicht betrachtend. Es war weiß; nicht blass, sondern
kreidebleich. Aber meine Finger zitterten nicht, sie verrichteten gehorsam ihre
Arbeit, erfüllten die winzigen Gebote, und tiefe Ruhe breitete sich in mir aus,
weil ich wusste, dass mich meine Finger, diese treuen Kameraden, in den
nächsten paar Stunden noch nicht im Stich lassen würden. Ich würde Beethoven
und Chopin spielen, weil das meine Pflicht war. Was würde danach sein? Nun, das
›Andere‹.
    Aber bis dahin würden wir zusammenbleiben, mein Körper und ich, denn
es gab etwas, das stärker war als mein Körper, stärker als die Krankheit, als
alle Erregungen und Absichten der Welt – ja, auch jetzt glaube ich das und
schreibe es erstaunt und demütig nieder –, stärker als das Schicksal und als
Gott: die Disziplin des Künstlers, das Selbstbewusstsein des schöpferischen
Menschen, der nicht stirbt, bevor er die Aufgabe des Schaffens erfüllt hat.
Denn dies ist das einzige Gebiet, auf dem sich der Mensch mit Gott messen kann
und ein wenig mit ihm gleichrangig ist, wenn er schafft, aus dem Nichts, wie
Er. Und solange diese Aufgabe ihn am Leben erhält, können Krankheit und Tod ihm
nichts anhaben. Wie viel Zeit würde mir noch bleiben? Ich musste spielen,
eineinhalb Stunden lang, weil ich Künstler war, also musste ich noch eineinhalb
Stunden lang leben. Dann würde ich mich den Kräften übergeben, die mich
ergriffen hatten, so wie der

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