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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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Wochen
beobachtete ich noch. Es war ein wohlwollendes Beobachten, denn all das, was
geschah, interessierte mich nicht übermäßig; ich hatte keine Pläne. Aber der
Professor kam jeden Tag, nickte und war gleichförmig höflich und freundlich,
gleichgültig und sachlich, als stellte er zufrieden fest, dass hier alles so
geschah, wie es mit einem Mann geschehen muss, der sich – der Himmel wusste,
wieso – zu dieser sonderbaren Beschäftigung entschlossen hat, krank zu sein.
Meine Krankheit ging ihn offensichtlich nichts an. Er wünschte spürbar, dass
ich gesunden möge. Dann ging er ins andere Zimmer zum nächsten Kranken, und ein
Gefühl, das sich meiner manchmal nach seinen Besuchen bemächtigte, warnte mich,
dass mir dieser Mann auf komplizierte und nicht feststellbare Weise, aber
dennoch untreu war. Er heilte mich gewissenhaft, aber er gab mir nicht alles,
was ich von ihm erwarten konnte. Was konnte ich eigentlich erwarten? Zeit hatte
ich, also dachte ich nach. Irgendein Mehrwert war es, den ich erwartete, wie
jeder Kranke. Ich spürte Sparsamkeit in seinem Verhalten, seinem Wesen, als
wüsste er, dass er seine Kraft unter allen Leidenden und Elenden aufteilen
musste und nicht einem Kranken mehr als dem anderen von dem eigenartigen Strom
geben durfte, der die Heilung bedeutete. So stellte ich es mir vor. Zugleich
wusste ich, dass diese eifersüchtige Forderung die Selbstsucht des Kranken war,
nichts weiter. Der österreichische Arzt biss sich auf die Lippe, zuckte manchmal
mit den Schultern, schnaubte auf und ging hinaus. Tage und Nächte vergingen.
Ich war allein in Florenz mit der Krankheit.
    Auch der Professor aus Neapel kam an; er trat durch die Tür, blieb
auf der Schwelle stehen und sagte mit erhobenem Zeigefinger: »Strecken Sie die
Zunge heraus!«
    Hinter ihm in der Türöffnung standen meine Freunde, der Professor
und der Unterarzt, lächelnd und amüsiert, in stummer Komplizenschaft, sie
ermutigten mich gleichsam mit Blicken und vorsichtigen Bewegungen, ich möge
nicht erschrecken, der neapolitanische Professor sei ein ausgezeichneter Mann,
er habe sonst keine Schwäche, außer dass er ein bisschen verrückt sei. Ich
verstand, dass dies der Sinn des Auftritts war, streckte die Zunge nicht heraus
und winkte dem Gast, näher zu treten. Er kam auf Zehenspitzen heran. Groß
gewachsen war er, das rotblonde Haar fiel ihm in Künstlerlocken in die Stirn.
Auf Zehenspitzen, verlegen, mit hüpfenden und tänzelnden Schritten wie ein
Seiltänzer auf dem Markt näherte er sich mit ausgebreiteten Armen meinem Bett.
Dann, als käme er zu sich, verbeugte er sich höflich und stellte sich vor.
Interessiert und prüfend betrachteten wir einander. Später hörte ich, dass
dieser Mann tatsächlich ein großes Talent war, ein weltberühmter Gelehrter
seines Fachs. Ich, der Kranke, interessierte ihn überhaupt nicht, umso mehr
interessierten ihn meine Beine und Hände, eifrig untersuchte er meine Reflexe,
sprang hierhin und dorthin, murmelte halblaut, achtete auf niemanden im Zimmer,
am wenigsten auf mich, den Menschen, der ich irgendwo hinter den kranken
Beinen, Armen und falschen Reflexen war. Eine halbe Stunde lang untersuchte er
mich so, versunken und halblaut murmelnd. Im Zimmer herrschte Stille. Die Ärzte
beobachteten jede seiner Bewegungen wie eine außerordentliche
Zaubervorstellung, deren Tricks die Fachkollegen sich gern abschauen würden.
Stumm lag ich auf dem schmalen, fachgerecht aufgebauten Bett – das Bett war wie
alles in diesem Gebäude ein Instrument, mit dessen Hilfe die Krankheit
behandelt, ja sogar geheilt werden konnte, aber auf keinen Fall ein Bett, auf
dem man sich ausstreckte und den Schlaf des Gerechten schlief – und beobachtete
ebenfalls die sonderbaren Sprünge des neapolitanischen Gelehrten, tat gehorsam,
was er von mir verlangte, hob die Beine und Arme, streckte die Zunge heraus,
schloss die Augen und öffnete sie dann – und wusste, dass all das nicht viel
Sinn hatte. Die Tage und Nächte vergingen, und ich verstand langsam, dass
hinter der »Behandlung« und »Heilung« etwas geschah, das mit den Ärzten nicht
viel zu tun hatte, das nur mich anging. Und auch der österreichische Arzt
schwieg. Manchmal gähnte er und kratzte sich, als denke er an etwas anderes und
langweile sich.
    Der Professor flog zurück nach Neapel, ich blieb in dem

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