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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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Krankheit ist nichts anderes als die verletzte Weltordnung.
Gott verlässt den Menschen, er zieht sich gleichsam von ihm zurück, und dann
kommt die Krankheit. In den Lehrbüchern kennt man diesen Vorgang natürlich
nicht.« Er lächelte schief und entblößte seinen Zahnlückenmund. »In den
Lehrbüchern ist von der Leber die Rede und von der Milz. Und vom Herzen. Und
das ist auch richtig so, weil es nur sehr selten einen Arzt gibt, Kranke jedoch
sehr viele, und deshalb gestattete schon Hippokrates während der Perserkriege
seinen Mitarbeitern, die Schamanen, also Priester waren, auch Fremde in das
Geheimnis der Heilung einzuweihen. In den großen Kulturen konnten nämlich nur
Priester heilen. Ich meine, in den lebendigen Kulturen, die mit Gott im
Einklang lebten, beispielsweise in der chaldäischen, der griechischen und
später der christlichen Kultur. Der Prager Arzt war ein Schamane. Er führte den
Kranken zu Gott zurück. Ich sehe, Sie verstehen mich nicht. Natürlich hat er
auch Abführmittel gegeben und gelegentlich den Chirurgen gerufen. Aber das
waren nur noch Folgen und Hilfsmittel wie das Röntgen oder die
Blutbilduntersuchung. Der echte Arzt heilt auch ohne Hilfsmittel.«
    Â»Das heißt, Sie sind kein Schamane?«, fragte ich eigensinnig und
gnadenlos.
    Mit einem traurigen Lächeln schüttelte er den Kopf.
    Â»Nein«, sagte er. »Ich bin kein Schamane mehr.« Mit der Fingerspitze
zeigte er auf sein Ohr. »Ich höre diese Stimme nicht mehr. Verstehen Sie?«
    Ich antwortete mit einer Frage und empfand Freude an dieser
Gnadenlosigkeit: »Aber früher haben Sie sie einmal gehört?«
    Â»Früher ja«, antwortete er zerstreut, missgelaunt und nebenhin. »Wir
wollen nicht über mich sprechen. Ich sehe, Sie fürchten sich. Der Professor hat
Sie auch nicht beruhigt. Das ist verständlich, er ist zwar ein großartiger
Mann, der alles weiß, was man über Krankheiten wissen kann, und der auch weiß,
wie wenig er weiß, aber das genügt nicht. Man muss dem Kranken auch etwas geben
und nicht nur Medikamente. Sehen Sie, in Frankfurt lebte nach dem Krieg ein
Jude. Dieser Mann war mein Patient. Sein Name ist nicht wichtig. Er war Jude,
hatte im Krieg gekämpft, er war Schriftsteller, aber nicht so ein
Schriftsteller, der Bücher schreibt, über die nachher in den Zeitschriften
Kritiken und Reklameanzeigen erscheinen. Er war anders Schriftsteller. Er
beschäftigte sich mit dem Judentum und mit Gott und danach mit dem Deutschen.
Wenige kannten ihn. Irgendwie hätte er gern das Jüdische und das Deutsche in
sich in Einklang gebracht, deshalb tat er das alles. Im Krieg ist ihm kein Haar
gekrümmt worden. Aber nach dem Friedensschluss in Frankfurt, wo er mithilfe der
Rothschilds eine jüdische Laienschule organisierte, wurde er eines Tages krank.
Zuerst glaubte man, er hätte eine Landry-Paralyse. Das ist eine sehr starke
Lähmung. Machen Sie sich keine Sorgen, Ihre Krankheit ist anderer Natur. Die
Krankheit meines Patienten war auch anderer Natur. An der Landry-Lähmung stirbt
man üblicherweise nach wenigen Tagen. Aber dieser Mann lebte weiter, acht Jahre
lang. Wollen Sie wissen, wie er lebte? Ich sage es Ihnen gern. Es ist meine
Pflicht, es Ihnen zu erzählen. Acht Jahre lang lag er reglos im Bett, die
Reflexe blieben der Reihe nach weg, die Hände wurden lahm, die Beine, dann ging
die Sprechfähigkeit verloren, die Schluckfähigkeit, die Verdauungsorgane wurden
von der Lähmung befallen. Er wurde künstlich ernährt, künstlich entfernte man
die verdauten Stoffe aus seinem gelähmten Körper, sprechen konnte er nicht,
nicht einmal die Hand konnte er heben. Was hatte er? Jetzt könnte ich antworten
wie der Professor vorhin: Was fangen Sie mit einem Wort an? Amyotrophe
Sklerose , aber damit habe ich nichts gesagt. Ein Heilmittel gibt es
nicht dafür. Der Kranke spürt keine Schmerzen, er hat keine Angstgefühle. Aber
er ist ohnmächtig, ein lebendiger Toter, über Jahre hinweg. So erging es auch
meinem Patienten. Nur seine Augen lebten noch, und den kleinen Finger der
linken Hand konnte er auch ein wenig bewegen. Der Lähmungsprozess ist langsam
und stetig. Als der Kranke spürte, dass er nicht mehr zu retten war,
beauftragte er einen Mechaniker, ihm eine Schreibmaschine anzufertigen, auf
deren Tastatur die Buchstaben größer waren als üblich. Die Maschine

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