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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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sorgsam
konstruierten Bett, das so vollkommen war wie ein elektrischer Stuhl, gegenüber
der Brandmauer, die von allen Gebäuden in Florenz die einzige Wirklichkeit für
mich geblieben war. Manchmal flammte das Feuer des herbstlichen Sonnenlichtes
an der Mauer auf, manchmal war sie von tiefen, braunen Schatten bedeckt. Der
neapolitanische Gelehrte, so hörte ich später, reiste zufrieden mit dem
Flugzeug an seinen Arbeitsplatz zurück. Er hatte genau das festgestellt, was er
erwartet hatte. Die Ärzte gingen fort, manchmal kamen sie regelmäßig zurück,
manchmal war ich ihnen zu viel oder ihr Leben, ihr Handwerk, manchmal
erkundigten sie sich nach mir. Von himmlischer Reise und verletzter Weltordnung
war nie wieder die Rede; der Unterarzt stieß mir gewissenhaft die Spritzen in
den Arm, Kurzwellen- und Röntgengerät rauschten leise, die Medikamente wirkten
manchmal und linderten die Schmerzen, manchmal auch nicht; die Betäubungsmittel
verschafften mir manchmal glückliche Stunden, manchmal verweigerten sie dem
kranken Körper hartnäckig den Taumel des Wohlbefindens und verursachten
insgesamt nur Ekel. Eines Tages wurden meine Hände lahm, später die Beine, an
einem anderen Tag wachte ich auf, konnte nicht schlucken und hatte
Sprechstörungen. Diese Symptome lösten bei meinen Ärzten Zeichen der Sorge, des
Interesses und rätselhafterweise der Zufriedenheit aus. Der Professor bemerkte
meine Lähmung freundlich und zugleich befriedigt, als bekäme er in einem
Kreuzworträtsel mit Ach und Krach das letzte Wort heraus. Beinahe heiter
erwähnte er, dass er dieses Symptom erwartet habe.
    Ich sprach die Worte lallend und halb verständlich aus, deshalb
beugte er sich dicht an mein Gesicht und bemühte sich, den Sinn der Wörter von
meinen stammelnden Lippen abzulesen. Der Unterarzt würdigte die neue Wende der
Krankheit nicht, er knabberte an seiner geschwollenen Unterlippe, faltete die
Hände über seinem Kummerspeckbauch und sah mich mit seitlich geneigtem Kopf,
funkelnden Augen und einem etwas vorwurfsvollen Blick an, als wäre ich nicht
gänzlich unschuldig an dem, was geschah. Und diese stumme Anklage empfand ich
nicht als völlig unbegründet. Auch ich hatte den Verdacht, dass ich an der
Sünde der neuen Wende nicht ganz unschuldig war. Wahrscheinlich hatte ich nicht
so gelebt, wie ich gesollt hätte, oder ich war nicht so Musiker, Mensch,
Mitbürger gewesen, hatte nicht in dem Sinn an Gott oder meine Mitmenschen
gedacht, wie ich gesollt hätte und wie es schicklich gewesen wäre, und jetzt
kam die Strafe.
    Mit dem Professor konnte ich über all das nicht sprechen; Fragen der
Anklage, Selbstanklage, Bestrafung, Freisprechung und Gnade interessierten ihn
nicht, für ihn waren die Symptome nichts anderes als die manchmal
überraschende, niemals regelgemäße, alles in allem jedoch natürliche Folge
eines außergewöhnlichen Krankheitsbildes. Für ihn gab es nur eine Gewissheit:
die Wahrheit, dass ich nicht schlucken konnte und lallte. Mit stammelnden
Worten fragte ich, ob ich eine Hirnblutung erlitten hätte. Er lächelte und
erklärte, dass es sich um ein vorübergehendes Symptom der Lähmung handele, von
Hirnblutung könne nicht die Rede sein; die Krankheit greife nicht nur die
Sinnesnerven an, sondern auch die Bewegungsnerven, also auch die
Gesichtsnerven. Und er beruhigte mich, dass dieses quälende Symptom bald
vorübergehen werde. Er ordnete an, mich künstlich zu ernähren, und gebot
streng, keinen Besucher zu mir zu lassen. Ich verstand das Verbot. Erst hatten
sie mich in Quarantäne gelegt, nun versteckten sie mich, in meinem Interesse,
als bedauernswerten Krüppel, sie schützten mich vor den boshaften und
mitleidigen Blicken neugieriger Fremder und retteten mithin meinen guten Ruf in
der Welt. Der Professor ging fort, und die dicke Schwester Dolorissa erschien
mit dem Tablett. Jetzt brachte sie nicht Äther und Spritzen, sondern breiiges
Mittagessen und begann mich mithilfe eines Gummirohres künstlich zu ernähren.
    All das war nicht nur entsetzlich, furchtbar und peinlich, sondern
auch interessant. Jetzt interessierte mich meine Krankheit bereits. Nicht nur
meinen Körper interessierte sie, sondern auch mich, irgendwo hinter Körper und
Krankheit, diesen anderen, der beim Denken und Fühlen nicht lallte, in den
Augenblicken, in denen sein Körper ihm bereits

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