Die Schwester
unterwegs waren, inmitten dreidimensionaler Erlebnisse. Ich lag im
Zustand der Zeit, tief, eingebettet, beinahe bequem. Irgendwo war Florenz.
Irgendwo war der Krieg. Irgendwo waren Konzertsäle, in denen die Musik brauste.
Irgendwo war auch E. â die Begriffe »vor sehr Langem« und »gerade« hatten für
mich ihren wirklichen Sinn bereits verloren â, und sie ging mich sicher noch
etwas an, aber nicht mehr so wie den lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut,
sondern eher nur wie eine Erinnerung, die Erinnerung an jemanden, der gestorben
oder in einen unbekannten Erdteil verreist ist. Aus diesem Erdteil führen keine
Telefondrähte und auch keine drahtlosen Wellen in die Vergangenheit. Die
Krankheit war alles, wahrhaftig, bedingungslos. Ich machte mich daran, sie
kennenzulernen. Wie schiffbrüchig vom Sturm auf eine Insel geworfen, begann ich
mit vorsichtigen und mutlosen Bewegungen, mich in dieser neuen Umgebung voller
Büsche und Gefahren zu orientieren. Ich nahm die Krankheit in Augenschein,
suchte meinen Platz in diesem neuen Zustand. Hier lauerten Gefahren, über mir
wölbte sich ein anderer Himmel als in der Vergangenheit; Ãberraschungen
schlichen gleich wilden und bestialischen Tieren im Gebüsch der Krankheit
herum. Vielleicht würde ich sterben müssen, weil ich krank war. Vielleicht
würde ich zum Krüppel. Manche liegen acht Jahre lang gelähmt da und können
weder schlucken noch sprechen, so viel hatte ich gelernt. Aber der Schamane
hatte gesagt, dass der Mensch unendlich sei. Ich gab acht, ob ich in mir, im
kranken Körper, diese Unendlichkeit spürte. Listig passte ich auf, wirklich wie
ein Schiffbrüchiger, den eine Naturmacht aus dem Versteck des schönen groÃen
Schiffes, aus der strombeleuchteten und bequemen Geborgenheit in die
überraschende, neue Wirklichkeit einer unwirtlichen Insel schleudert. Die
Krankheit murrte halblaut in meinem Körper wie eine blutrünstige Bestie, wenn
sie Beute wittert. Der Schmerz hatte mich wie die Wilden mit seinen Pfeilen
vergiftet. Dieser bescheidene Vergleich lenkte mich eine Zeit lang ab. Aber
dann musste ich auf etwas anderes achten, denn die Krankheit war auch eine
Zwangsarbeit, ein winziges Weltereignis, das nach Stundenplan ablief und dessen
jeweilige Ordnung ich nicht vernachlässigen durfte. Wieder wurde mir die
Temperatur gemessen, dann kam ein neuer Arzt, der sich freundlich erkundigte,
ob ich Kraft und Lust hätte, mich in die Unterweltsräume des Krankenhauses zu
begeben, wo mich eine moderne Konstruktion erwartete, eine Maschine, die
Kurzwellen ausstrahlte, um mit segensreichen und geheimnisvollen Strahlen in
meinem Körper die Krankheit aufzuspüren und dann zu vertreiben. Er lächelte
vielsagend wie ein Kuppler, der den Neuankömmling mit bislang ungekannten
Freuden lockt; dann ging er fort, und an seiner Stelle erschien eines der
schwarz-weiÃen Wesen mit dem tiergleich lautlosen Gang, die mir Medikamente
brachten oder mich füttern wollten: die Schwestern, die im Zustand meiner
Krankheit kamen und gingen wie sagenhafte Schattenwesen auf den Seiten einer
sonderbaren Geschichte zwischen den Zeilen. Dann kam wieder die Nacht und mit
ihr der Schmerz, und der Unterarzt, der jetzt überhaupt kein Schamane war,
sondern dunkel gekleidet auf dem Weg in die Oper, beugte sich eilig über mein
Bett und wies die Schwester, ohne Widerspruch zu dulden, an, wann und wie viel
Schmerzmittel sie mir in der Nacht geben durfte. Zerstreut sah er mich an wie
ein Familienmitglied, einen wohlbekannten und unbequemen Verwandten, dessen
Anwesenheit nicht mehr interessant ist. Wochen vergingen, und er sprach von
keinerlei Schamanentum, auch nicht davon, dass die Krankheit in Wirklichkeit
die verletzte Weltordnung sei. Genau und mit wunderbarer Geschicklichkeit
verrichtete er seine Arbeit und gab mir Vitamininfusionen in die Ader. Manchmal
blieb er vor dem Bett stehen, legte den Kopf zurück, kniff die Augen etwas
zusammen und schaute mich an, wie ein Bildhauer oder Maler das Entstehen seines
begonnenen Werkes, einer Statue oder eines Bildes betrachtet. Und ich lag im
Prüfstrahl dieses Blickes, wie ein begonnenes Werk, das er, der Arzt, gezwungen
ist vollkommen fertigzustellen. Dies begonnene Etwas war die Krankheit, so viel
verstand auch ich. Ich duldete den Blick, die Spritzen, die Strahlenbehandlung,
die Medikamente, und beobachtete auch. Jedenfalls in den ersten
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