Die Schwester
verstehen? Jetzt interessierte mich die Krankheit immer mehr.
Als wollte ich mich mit halber Arbeit nicht zufriedengeben, nahm ich,
allmählich aus dem Taumel der Betäubungsmittel erwachend, früh am Morgen, in
der ersten Dämmerung des Tages und des Verstandes, meinen Körper ohne
Gekränktheit und ohne Verzweiflung unter die Lupe. Wie sehr lebte ich noch,
ähnelte ich demjenigen, der ich â vor sehr langer Zeit â gewesen war, einem
Menschen, der in Salons unter Menschen gesessen und flieÃend über Leben und Tod
diskutiert, der in Konzertsälen das gefährliche Ungeheuer der Musik
heraufbeschworen und bezwungen hatte? Ich wusste, dass ich diesem Mann nur noch
verzerrt, nur noch ungefähr ähnelte; nicht nur mein Körper hatte sich verändert
im Höllenkessel der Krankheit, wo er von einer heiÃen, bösen Kraft gekocht und
gepökelt wurde, sondern auch ich, der andere, hinter meinem Körper, hinter
meinen Erinnerungen, auch ich war nicht mehr der Alte.
Und all das war interessant. Es war anders »interessant« als die
Menschen, Landschaften oder Gedanken drauÃen in der Welt. Es war, wie der Tod
für den Sterbenden oder die Geburt für den, der geboren wird, überraschend und
vertraut zugleich sein kann. Denn auch mir schien dieser Zustand vertraut, ich
empfand all das, was mit mir geschah, überhaupt nicht als überraschend. Er war
vertraut, als wäre jeder mögliche Zustand des Menschen tief und unlösbar in uns
verborgen, wie ein Marmorblock alle möglichen Varianten des Kunstwerkes in sich
birgt. Und nun löste der groÃe Meister, sei es die Krankheit oder eine andere
Kraft, die der Krankheit nur als Werkzeug diente, diese Variante des Seins aus
dem Material meines Körpers. Ich war also ein Krüppel, ein bisschen scheintot,
und es fehlte nicht viel, dann wäre ich ganz tot. So war es, und all das flöÃte
mir keine Furcht ein. Ich empörte mich nicht und klagte nicht, weder vor mir
noch vor Gott. Ich klagte nicht das Schicksal an, die tauben und wilden Mächte.
Was interessierte mich an dieser Situation? Die praktischen Möglichkeiten. Also
nicht was E. oder das groÃe Lager der Musiksachverständigen oder meine
Bekannten zu diesem elenden Schmachtenden sagen würden, der ich war, sondern
vor allem und unbedingt nur die Möglichkeit, ob ich meine Hände noch bewegen
konnte, ob ich noch schlucken konnte â auf keinen Fall aber Spekulationen, ob
ich wohl noch einmal auf dem Klavier Chopin zum Klingen brächte. Wochen
vergingen, in denen ich lebte wie ein Tier, und das war weder schlimm noch zum
Verzweifeln. Denn es kamen Tage, an denen ich schon die Hand nach der Klingel
ausstreckte, eines Morgens sprach ich die italienischen Wörter verständlicher
aus, eines Tages konnte ich wieder schlucken. Die körperlichen Symptome gingen
langsam zurück, bald konnte ich beinahe wieder essen wie ein Mensch â wie lange
war das her? Vor sehr langer Zeit, in einem anderen Leben, vor zwei Monaten.
Denn seit zwei Monaten lag ich schon in diesem Prunkbett, zwei Monate hatte
mich der Professor jeden Tag besucht, hatte der Unterarzt bei Tag und Nacht
hereingesehen und kannte meinen Körper, mein Adersystem, meine Nervenfasern
bereits so gut, wie er wahrscheinlich seinen eigenen Körper nicht kannte, und
jede Stunde hatte eine der schwarz-weiÃen Schattengestalten die Klinke der
weiÃen Tür hinuntergedrückt, etwas gebracht, mich gebettet, aufgerichtet,
gefüttert, mir ein paar Worte zugeflüstert. Zwei Monate, und irgendwo waren die
Welt und der Krieg, doch darüber sprach niemand. Offenbar lebte ich jetzt
woanders, in einer Welt, deren Gesetze von der Welt der Lebendigen, die auf
zwei Beinen gingen, nicht verletzt werden konnten.
In diesen beiden Monaten, als ich wochenlang weder schlucken noch
reden konnte, als ich bewegungsunfähig ans Bett gefesselt war, unter fremden,
wohlwollenden und gleichgültigen Menschen, als ich den Launen des Unterarztes
mit dem verträumten Blick und den Schamanenambitionen, einiger
Krankenschwestern und eines Vorgesetzten, dem Professor, auf Gedeih und Verderb
ausgeliefert war, war ich vollkommen ruhig. Glücklich? Ich kann nicht sagen,
dass ich glücklich war, weil ich nicht weiÃ, was Glück ist. Doch wenn die
Wunschlosigkeit, die vollkommene Zufriedenheit, dieses dankbare und bescheidene
Erkennen der Wirklichkeit dem Glück nicht ähneln,
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