Die Schwester
wurde
fertig, und der Schriftsteller begann zu arbeiten. Seine Arbeitsweise war
folgende: Er sah so lange auf einen Buchstaben der Tastatur, bis seine Frau die
Taste anschlug. Auf diese Weise schrieb er Kritiken für die Radiospalten einer
deutschen Zeitschrift über ernste Musikstücke, übersetzte die Gedichte
amerikanischer Dichter ins Deutsche, antwortete auf alle Briefe und übertrug
mithilfe eines Schriftstellerkollegen das Alte Testament aus dem Hebräischen
ins Deutsche. Acht Jahre lang lebte er so. Geklagt hat er nie. Immer war er gut
gelaunt. Die Rothschilds in Frankfurt gingen, wenn sie eine gute halbe Stunde
haben wollten, in die Wohnung, wo der kranke Schriftsteller lag, und bekamen
immer etwas: Heiterkeit und Zuversicht. Und dieser Mann, der sich nicht bewegen
konnte, der weder schlucken konnte noch sprechen, der nur noch mit dem Geist
lebte und mit den Augen Lebenszeichen gab, wandte sich acht Jahre lang mit
seinen Briefen an Hunderte von Menschen, diktierte stumm Ratschläge, ermunterte
und tröstete. Am Tag vor seinem Tod schrieb er einem Freund, dass der Mensch
den Anzeichen zufolge dennoch mehr Fähigkeiten zum Schmerz habe als zur Freude.
Dies war seine einzige Klage. Nach achtjähriger ununterbrochener Krankheit,
völliger Lähmung und angestrengter Arbeit starb er, weil sein Körper sich
auflöste.«
Er verstummte und sah mich mit geneigtem Kopf kurzsichtig und
neugierig durch die Brille an, wie ein altkluges Kind, das mit einem
überraschenden Streich die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen erregt hat und
jetzt auf seine Wirkung lauert.
»Meinen Sie«, fragte ich, »dass mich das auch erwartet, acht Jahre
Hilflosigkeit?«
Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Ich meine«, sagte er freundlich, »dass der Mensch unendlich ist.
Unendlicher als die Krankheit und alles, was mit ihm geschehen kann. Nur nicht
so unendlich wie Gott, der ihn verlassen hat.«
Er ging auf die Tür zu. Von der Schwelle her sagte er in den Raum:
»Der Patient möchte sich ausruhen, Schwester Dolorissa. Und er bekommt am Abend
eine Spritze, vergessen Sie das nicht.«
Er ging aus dem Zimmer. Die groÃe, dicke Schwester folgte ihm mit
dem Gerätetablett auf dem Arm, feierlich und wortlos mit stattlicher Zeremonialität;
wirklich wie eine Priesterin, die höhere Geheimnisse kennt und keinen Blick für
die elenden Gläubigen hat.
Der Arzt trat aus der Tür, und die Schwester ging weg. Ich blieb
allein und machte mich an die Krankheit wie an eine Aufgabe, ein abenteuerliches
Reiseunternehmen oder eine Arbeit, deren wirkliche Schwierigkeiten man noch
nicht kennt, wenn man sie in Angriff nimmt. Ich ahnte lediglich, dass die
Aufgabe kompliziert und langwierig sein würde. Der Professor hatte von Monaten
gesprochen, und auch der Unterarzt hatte mir nicht viel Gutes verheiÃen. Das
Beispiel des jüdischen Schriftstellers, der gelähmt, nur mit dem Blinzeln
seiner Augen acht Jahre lang Briefe und Aufsätze geschrieben hatte, lockte mich
nicht und spornte mich nicht zur Nachahmung an. Ich spürte nicht die Kraft
dazu, weder in meinem Körper noch in meiner Seele, und dem Beispiel hatte ich
nur entnommen, dass mich ein ähnliches Schicksal erwartete. Der eigenartige
österreichische Arzt, der kein Schamane war, aber an die Möglichkeit einer
himmlischen Reise glaubte, wollte mich auf die zu erwartenden Entwicklungen
meines Schicksals hinweisen. Ich blickte auf meine Hände. Meine Finger bewegten
sich gehorsam, nur gerade in den Fingerspitzen spürte ich ein schwaches
Kribbeln wie ein Ameisenkrabbeln, das mich darauf aufmerksam machte, dass in
meinem Körper etwas geschah und dass diese Handlung von meinem Willen
unabhängig war. Der Schmerz ruhte gerade, wahrscheinlich sammelte er Kraft für
eine neue Runde des groÃen Kampfes. Ich war müde und gleichgültig. Die Welt war
sehr weit weg. Nicht wie wenn etwas in Raum und Zeit fern ist, sondern eher,
wie die Welt einem ungeborenen Lebewesen vor der Geburt oder einem Sterbenden
vor dem eigentlichen Tod erscheinen mag. Meere, Bücher, ein Flügelaltar in einer
Kirche, die Augenfarbe einer Frau, alles, was zum menschlichen Leben gehört,
ist weit weg. So lag ich da wie ein Halbeingeweihter, dem das Urteil bekannt
war, aber dem man nicht gesagt hatte, auf welche Weise es vollstreckt werde.
Zeit hatte ich, anders als die Menschen, die jenseits der Brandmauer
in der Welt
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