Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
Vom Netzwerk:
ein mit der Glut des
Schmerzes gefülltes Hinnomtal, wandelte sich in diesen Augenblicken zu einer
Lagerstatt, zum Schauplatz des nahenden Abenteuers. All dies ließ mir das Herz
höherschlagen, es wärmte Körper und Seele, und zugleich war es auch etwas
ungehörig und unmoralisch. Und tatsächlich, leise, lautlose Schritte näherten
sich auf dem Flur, Frauenschritte, sie eilten zu meiner Zimmertür, mit dem
verstohlenen Gang eines Komplizen, den Frauen annehmen, wenn sie nachts ins
Zimmer eines Mannes gehen, um dem Wartenden Glück, Vergessen, Versöhnung, Trost
oder Liebe zu bringen. In diesen Augenblicken war mir gleichgültig, in welcher
Form die eilenden weiblichen Schritte mir das Glück brachten; in Form einer
Geliebten, die sich zu einem nächtlichen Stelldichein stiehlt, oder in Form
einer chemischen Flüssigkeit. Denn auch das war ein Stelldichein,
unmissverständlich. Der mitternächtliche Augenblick, diese ahnungsvolle
Einsamkeit, das Bett, das Warten, das Halbdunkel, alle Qualen des Seins, die
sich – damit konnte ich gewiss rechnen – bald auflösen würden im Taumel der
sanften Umarmung dieser geheimnisvollen Geisterarme. Die Tür öffnete sich, so
leise, wie nur Frauenhände in Nachtstunden Türen öffnen können, und eine der
schwarz-weißen Schattengestalten trat ein, lächelnd, in der Hand die kleine
Spritze, flüsternd. Dies war der Augenblick, war das ›chemische Stelldichein‹.
Was lag in alledem? Das zufriedene Wissen darum, dass menschlicher Intellekt
und Hilfsbereitschaft, wenn auch nur für Stunden, stärker sein können als die
tierisch-unterweltlichen Qualen der Natur. Die Ahnung, dass jetzt etwas Süßes
und beängstigend Gutes mit einem gepeinigten menschlichen Körper geschah oder
eine Art Glück unter der Vielfalt der Qualen und dass man sich davor nicht
fürchten musste, nicht einmal, wenn es seinen Preis hatte. Die Sicherheit, dass
mich in wenigen Augenblicken eine Kraft, die stärker war als der Schmerz, mit
ihren überlegenen und sanften Händen aus der unterweltlichen Grube des Leidens
heben würde, hinüberheben in einen anderen Zustand des Seins, wo mich lautlose
Musik, umschleierter Friede und vollkommen angeordnete Harmonien erwarteten.
Ein Stelldichein war das, Hoffnung und Gefühl, Glück und Schuldbewusstsein,
Herzklopfen und Warten, alles, was das menschliche Herz von Anbeginn des Seins
höherschlagen lässt, dasselbe Hoffen, das Verliebte erfüllt, wenn sie einander
in die Arme fallen. Flüsternd unterhielten wir uns, die nächtliche Besucherin
und ich, der wartende und hoffende andere, im Bett. Ich bekam die Spritze, und
die Besucherin wünschte mir mit halblauten Worten, gleich einem Seufzer, eine
gute Nacht, ging lautlos aus dem Zimmer und schaltete das Licht aus.
    Jetzt begann etwas, dessen Dauer und wirklichen Sinn ich noch keine
Zeit hatte zu untersuchen. Denn die Spritze wirkte schnell. Meine Augen hatten
sich noch nicht an das dunkle Zimmer gewöhnt, und schon begann die eigenartige
Erregung zu flimmern, die glückliche Beklemmung, in deren Taumel der Schmerz
wie ein besiegter Kämpfer seine Folterinstrumente fortwarf und sich von meinem
Bett wegstahl. Was geschah in diesen Augenblicken? Sehr wenig und alles. Zuerst
hörte mein Körper auf zu sein, der Reihe nach: die Extremitäten, der Rumpf, der
Kopf, dann das Bewusstsein der Sinnesorgane, das Sehen und Hören. Meine Kehle
trocknete aus, ich hatte das Gefühl, zu ersticken und nicht schlucken zu
können. Auf diese Beklemmung folgte eine Art Sturzgefühl, als würde ich mit dem
Kopf nach hinten in eine dunkle und weiche Tiefe fallen, wo ich mich nicht
stoßen konnte, weil diese Tiefe keinen Grund hatte, weil sie das Unendliche
war, das Nichts, das zwischen Himmel und Erde Absolute. Und all das war
beglückend vertraut. Es erinnerte nicht an die Wollust, weil es weniger war als
sie und doch mehr. Es war kein körperliches Gefühl, weil der Körper in der
vertrauten Hitze der Umarmung vollkommen zerschmolz, aber es war auch kein ganz
körperloser Zustand, denn in ihm lag etwas Rohes, etwas von der Befriedigung,
die auf die absolute Lust folgt.
    Diese gesichtslose, körperlose Geliebte, die sich in der Nacht auf
die Lagerstatt eines Aussätzigen schlich, gab sich ganz hin und forderte die
vollständige Hingabe. Sie war fremd, hatte eine eigene Persönlichkeit.

Weitere Kostenlose Bücher