Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
Vom Netzwerk:
den Bannkreis des gemeinsamen Schicksals –
in Gefängnissen, Krankenhäusern, Internierungslagern –, voneinander und von der
Natur der Menschen weiß, die über das Schicksal entscheiden. Durch die Mauern
strömten diese Informationen, auch ohne Klopfen und Geheimschrift; wir wussten
alles voneinander, die Kranken und Gefangenen, und auch die Krankenschwestern,
unsere sanften Sklavenhalterinnen, wussten alles. Ich hörte, dass der »Herr in
der Fünf« – also der Magenkrebspatient in Zimmer 5 – schon drei Tage nach der
Operation die wenigen Schlucke Milch im Magen behielt, die Dolorissa ihm mit
strengem Willen eingeflößt hatte; diese erfreuliche Nachricht elektrisierte die
hoffnungslosen Kranken. Ich wusste, dass die dalmatische Dame im gemeinsamen
Krankensaal, der in der Woche zuvor die Brust abgenommen worden war, schon den
Friseur gerufen und ihre Haare ordnen lassen hatte, weil sie Besucher
erwartete. Ich wusste all dies und noch vieles andere – wie man auch von mir in
den Einzelzimmern und den Krankensälen alles Wesentliche wusste: Ich war krank,
konnte aber schon wieder schlucken, sogar sprechen. Alles hatte in der
exterritorialen Welt der Krankheit einen anderen Wert, als es für die Gesunden
haben mochte.
    Dolorissa pflegte wie eine strenge Verwandte, die versucht, die
verirrte Menschheit mit dem angemessenen Tadel, mit Psalmen, Medikamenten und
gnädigen, erfahrenen Bewegungen ins Leben zurückzuführen, auf den richtigen
Weg. Oder sie half ins Jenseits hinüber, wo die Menschen sich nicht weiter so
nutzlose Dinge zuschulden kommen lassen konnten wie Magenkrebs oder
Blutvergiftung.
    Auch Matutina, Cherubina und Charissima waren immer in meiner Nähe,
aber hinter den Kutten dämmerte lange keinerlei Persönlichkeit zu mir hervor.
Ich wusste nur, dass sie da waren, dass ihre Hauben immer faltenlos saßen und
mit Wäschesteife gestärkt waren, dass zwei Stecknadeln mit beinernen Köpfen den
Umhang unter ihrem Kinn zusammenhielten, dass ihre Manschetten vor Sauberkeit strahlten
und dass ihre schwarz-weiße Tracht mit dem Gürtel und dem leise klirrenden
Rosenkranz zu jeder Tages- und Nachtstunde gleichmäßig gewaschen und gebügelt,
makellos, auch in ihrer Verschlissenheit mustergültig war. Es dauerte Wochen,
bis ich ihre Namen lernte, und weitere Wochen, bis ich hinter den Namen und den
Ordensgewändern lebendige Personen wahrzunehmen begann. Ich läutete oder dachte
an etwas, schon erschien in der Tür Matutina, brachte ernst das Thermometer,
das Schmerzmittel, ein Glas Milch oder fragte stumm, mit fachmännischem Blick,
was mich schmerzte oder was mir in den Sinn gekommen sei. Ich stöhnte auf, und
schon öffnete sich die Tür, und Cherubinas große, geschmeidige Gestalt tauchte
auf, mit sanften und besorgten braunen Augen beobachtete sie mich und lauerte
auf ein verräterisches Zeichen, das von einer neuen Wendung der Krankheit
kündete. In der Komplizensprache, in der sich nur der Patient und sein Pfleger
verstehen, aus Wortfetzen und Handbewegungen verstand sie meinen Wunsch oder die
Bedeutung des Augenblicks. Es ging gegen Mitternacht, und Charissimas Schritte
klopften schon leise auf dem Flur. Sie brachte die Tropfen, die magische
Spritze, unser gemeinsames, peinliches und dennoch glückliches Geheimnis. Wie
sie waren? Wochen und Monate vergingen, und langsam lernte ich die Charaktere
hinter den Kutten kennen. Denn schon gab es Stunden, in denen mich meine
Krankheit nicht so leidenschaftlich interessierte wie in den ersten Wochen; das
Grundgefühl des Schmerzes, der Mattigkeit, der Gelähmtheit, des Vergiftetseins
war schon genauso langweilig wie in irgendeiner Stunde des Zwischenspiels von
Tag und Nacht, wie eine der Zwangsarbeiten des Lebens. Auch das war eine
Zwangsarbeit, jenseits des kurzen, schwülen Glücks des nächtlichen Stelldicheins
war ich von morgens bis abends vorschriftsmäßig, fleißig und fachgerecht krank.
Und manchmal war mir das schon über. Denn der Mensch – auch das musste ich
lernen – ist so, dass er manchmal sogar die Hölle satthat.
    Doch den vier Schwestern wurde diese Hölle nicht langweilig. Für sie
war dies der einzig mögliche Zustand des Lebens, ja, das Krankenhaus, die
Krankheit und das Wesen der Kranken, das war für sie das Gesunde, war alles für
sie. Dolorissa war streng und sachlich, der Kranke versteckte sich

Weitere Kostenlose Bücher