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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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so will ich diesen
Seelenzustand gar nicht kennenlernen. Nichts und niemand fehlte mir;
schließlich lebten irgendwo noch Menschen, die sich an mich erinnerten; und
kein einziges Mal fiel mir ein, nach der Post zu verlangen oder mich ungeduldig
zu erkundigen, warum niemand an der weißen Tür klopfte, die in diese andere
Welt, in das Krankenzimmer, führte. Ich dachte, die Welt sei anderswo und aus
diesem ›Anderswo‹ führten jetzt keine Wege mehr zu mir, und auch dieses Gefühl
beruhigte mich. Tage und Nächte waren von dem Gefühl vollkommener Verborgenheit
und Sicherheit durchdrungen. Hätte mich nicht regelmäßig der Schmerz gepeinigt,
diese Begleiterscheinung der Krankheit, hätte ich wirklich kein Verlangen und
keinen Wunsch nennen, von keiner Klage oder Sehnsucht sprechen können. Der
Zustand, den ich lebte, war vollständig und vollkommen. Denn Schmerz und
Krankheit waren der wahre Inhalt und Sinn dieses Zustands. Buchstabe für
Buchstabe, als läse ich einen fremden, rätselhaften Text, verstand ich bereits
so viel von der himmlischen Botschaft. Wie ein Erwachender, noch mit
geschlossenen Augen, im Taumel des ersten Bewusstseins seiner Existenz,
argwöhnte ich, dass Krankheit und Schmerz nur als Requisite und Kostüm dienten
– ich war Darsteller einer dramatischen Szene, und Requisite und Kostüm
unterstrichen das nur. Der Sinn der Handlung war wichtiger. Was aber war der
Sinn der Handlung? Tage und Nächte vergingen in dieser Dämmerung, die Frage
wusste ich nicht in Worten auszudrücken; sie brannte im Glühen des Schmerzes,
im Leiden der gemarterten Glieder, in der würgenden und demütigenden
Körperlichkeit der Krankheit. Währenddessen war ich ruhig, irgendwo weit
entfernt, versteckt hinter Verkleidung und Requisite. Manchmal lächelte ich
sogar.
    Gänzlich verlassen und ohne Trost war ich allerdings nicht. Ich
hatte ein Geheimnis. Aber darum wussten nur wenige: der Professor, der
Unterarzt, die jeweilige Krankenschwester und ich. Und wir hüteten dieses
Geheimnis wie Komplizen eine beschämende Mitschuld.
    Im zweiten Monat gab der Professor auf, weil man mit dem Schmerz
kein Abkommen schließen konnte. Er zuckte mit den Schultern, brummelte vor sich
hin und stimmte dann zu, dass ich in jeder Nacht eine von den starken
Injektionen bekam, welche die Schmerzen für zwei oder drei Stunden mit ihren unsichtbaren
Gespensterkrallen erstickten. Der Professor hatte den Kampf offensichtlich
fallen lassen, er protestierte nicht mehr, er fügte sich der
Schreckensherrschaft der stärkeren Wirklichkeit. Einige Wochen lang hatte man
mit Pyramidon experimentiert, dann mit den schön klingenden, aber opiumfreien
Schmerzmitteln, man hatte mir die Rauschmittelcocktails in die Venen injiziert,
hatte sie in Pulverform oder durch den Gummischlauch verabreicht; sie hatten
mir Übelkeit verursacht, manchmal düsteren und quälenden Schlaf verschafft,
aber Ruhe hatten sie mir nicht gebracht und den Schmerz nicht beendet. Der
Professor hatte mich gewissenhaft, mit dem routinierten Blick eines
Geheimpolizisten, beobachtet, ob ich nicht nur vorgab zu leiden. Die
Krankenschwestern waren nachts um mich zugange wie bezahlte Spione. Sie
lauerten, ob meine Qualen wahrhaftig waren, ob ich nicht betrog, ob ich auch
unter den Keulenschlägen der starken, bösen, herben Mittel tatsächlich
schlaflos blieb. Die Meldungen der Spione mochten den Professor davon überzeugt
haben, dass ich nicht betrog. Nichts half, der Schmerz rasselte überlegen und
gemein alle drei Stunden mit seinen Folterwerkzeugen; unberechenbar und immer
frech in seiner Vorherrschaft. Die biederen Pülverchen und Spritzen mussten weggeworfen
werden. Dieser Schmerz war Wirklichkeit, und von Zeit zu Zeit konnte ihn nur
die stärkere Wirklichkeit bezwingen: das Opium.
    Nach einer besonders giftigen Nacht, als der erfindungsreiche
Foltermeister jeden Trick gezeigt hatte, saß der Professor bei der
morgendlichen Visite lange an meinem Bett. Er stützte den Kopf in die Hand und
betrachtete wortlos mein Gesicht. Dann zuckte er mit den Schultern wie ein
Schachspieler, der am Ende einer Partie nach langem Nachdenken eingesteht, dass
er verloren hat.
    Â»Gut«, sagte er freundlich und nahm meine Hand, um im schnellen
melodischen Tonfall der Toskana weiterzusprechen. » Bene,
bene . Wir können nichts machen. Ich habe nicht das Recht zu dulden, dass
Sie

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