Die Schwester
leiden.«
Er wandte sich an den Unterarzt.
»Heute Nacht und jede Nacht«, verfügte er, »geben Sie ihm die andere
Spritze.«
Der Unterarzt nickte, man sagte mir nicht, was »die andere Spritze«
war, und ich in meiner verletzten Eitelkeit erkundigte mich nicht, was ich
bekommen würde. Es war die Gekränktheit des Patienten, den man hatte leiden
lassen, und die Befriedigung, dass schlieÃlich ich und die Krankheit gesiegt
hatten. Der Professor war gezwungen, sich zu ergeben, weil wir beide, die
Krankheit und ich, stärker waren.
»Ich hoffe, Sie gewöhnen sich nicht daran«, sagte der Professor und
sah mich mit seitlich geneigtem Kopf prüfend an, als sollte er vor dem groÃen
Kampf die Kraft eines Ringers messen. »Das ist eine Charakterfrage, Maestro.«
Er nickte und ging. Auf der Schwelle sah er zurück und lächelte
sanft.
»Verzeihen Sie«, sagte er. »Ich zweifle nicht an Ihrem Charakter.
Aber ich kenne die Kraft der Alkaloide. Und doch kann ich nichts anderes tun.
Ihre Schmerzen sind stärker als Pyramidon und als meine Wissenschaft.«
Bescheiden und klug sagte er das, als wüsste er, dass es im Leben
und im Tod keine Lösung ohne Verhandlung gibt. Er ging, und der Unterarzt
grinste.
»Sie haben gewonnen«, sagte er und entblöÃte seinen Kiefer mit den
Zahnlücken.
Ich antwortete ernst: »Ich weiÃ.«
»Aber Sie haben dafür zahlen müssen«, sagte der Unterarzt lebhaft
mit Anerkennung im Ton. »Zwei Monate und eine Woche, das sind schlieÃlich
siebenundsechzig Tage. Und siebenundsechzig Nächte. Alles auf der Glut. Auch
das ist eine Leistung, Maestro. Eine andere Leistung, als sie der Frankfurter
Schriftsteller vollbrachte, aber Sie sind auch ein anderer Mensch. Manchmal
staune ich, dass Sie es ertragen.«
Ernst, beinahe achtungsvoll fügte er an: »Fürchten Sie sich nicht
vor der Euphorie . Ich mache mir auch keine Sorgen um
Sie. Fürchten Sie sich nicht davor, glücklich und vom Schmerz befreit zu sein.
Vielleicht ist das das groÃe Elend der Menschheit, nicht der Schmerz, sondern
die Angst, die verhindert, dass man glücklich ist. Das hat seinen Preis?
Gewiss, alles hat seinen Preis; dieser Gemeinplatz ist gerade alt genug dazu,
dass die Menschheit ihn endlich nach ihrem Herzen und wirklich lernt. Soll sie
zahlen.«
Zufrieden und breit lächelnd ging er davon. Am Abend bekam ich die
»andere Spritze«. Auch am nächsten Tag und in allen Nächten, in denen ich nach
ihr verlangte.
Diese Viertelstunde, deren Inhalt Geheimnis war â mein
Geheimnis, das des Arztes und der Krankenschwester â, nannte ich: âºchemisches
Stelldichein⹠. Denn sie erinnerte mich tatsächlich an
ein Stelldichein. Ich wartete auf die Nachtstunde wie ein Verliebter auf den
Augenblick der Begegnung. Alle Pein und Langeweile des Tages wurden durch das
ferne Dämmern der Hoffnung auf diesen Augenblick gelindert. Der Schmerz warf
sich tagsüber, wenn er Macht über mich hatte, wie ein ausgespielter, griesgrämiger
und unbarmherziger Liebhaber mit potenzierter Wut auf mich, bemühte sich mit
feindseliger Leidenschaft, mir das Leben mit Varianten von immer neuen Qualen
bitter zu machen. Er briet die Finger genauso wie der Henker, der den
Angeklagten zum Geständnis nötigen will und ihm feurige Nägel unter die
Fingernägel sticht. Aber jetzt glitzerte selbst in den wildesten Augenblicken
die ferne Hoffnung, dass es eine irdische Macht gab, welche die Hände des
gnadenlosen Henkers für einige Stunden in Fesseln legen konnte. Ich erwartete
die Nacht, und der Tag wurde dämmrig in der wunderbaren, feierlichen Stimmung
dieses Wartens.
Das âºchemische Stelldicheinâ¹ begann gegen Mitternacht. Ich wartete
auf den Augenblick, ich dehnte seine Ankunft, streckte sie förmlich, spann
geheime Schlachtpläne aus Elementen von Zeit und Schmerz. Gegen Mitternacht,
wenn die Hunderte von elenden Leidenden in dem Gebäude in müder
Gleichgültigkeit und leichtem, zuckendem Schlaf ruhten, streckte ich die Hand
aus, tappte suchend nach der Klingel und drückte sie. Jetzt folgten
ahnungsvolle, vom Warten durchdrungene Minuten. Mein Herz klopfte ganz so, wie
das Herz eines Verliebten klopfen muss, wenn er um die mitternächtliche Stunde
den Besuch seiner heimlichen Geliebten erhofft. Im Zimmer brannte nur die blaue
Lampe. Und das Bett, noch vor einigen Augenblicken
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