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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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nicht davon«, wie wenn
Männer am nächsten Tag mit schlechtem Gewissen sagen: »Weibergeschichte,
vergessen wir es.« Aber wir vergessen es nicht. Und abends gegen sechs, wenn
der Schmerz begann, unter den für den jeweiligen Tag geplanten Foltermethoden
zu wählen, erwartete ich wieder sehnlichst die Mitternachtsstunde.
    All das wusste der Professor, und der Unterarzt räusperte sich. Auch
andere wussten Bescheid, die stummen Augenzeugen des geheimen nächtlichen
Stelldicheins, seine wortlosen Helfer, diese engelsgleichen Kuppler: die
Schwestern. Doch auch sie sprachen nicht. Die Krankheit hat Geheimnisse, und
sie kannten die Geheimnisse von Tausenden und Abertausenden von Qualen, von
Schande und menschlichem Elend. Sie brachten mir nachts dieses verbotene Glück
ans Bett und wussten, dass sich Pein und Lust im leidenden Körper mit
gleichermaßen gnadenloser Gleichgültigkeit Quartier suchen. Und sie sprachen
über nichts, sie lächelten, schwiegen und pflegten mich.
    Auf dem Flur der Sanatoriumsstation, auf den die Tür meines Zimmers
ging, arbeiteten sie zu viert: die Schwestern Dolorissa, Cherubina, Charissima
und Matutina. Ihre Diensteinteilung lernte ich nie vollständig kennen. Manchmal
verließ die eine oder andere zwei Tage und zwei Nächte lang ihren Posten nicht.
Doch es kam auch vor, dass sie sich alle zwei Stunden abwechselten. Weder über
ihr Leben noch über die Ordnung ihres Dienstes verrieten sie etwas. Dolorissa
war dick und groß und hatte Blatternarben im Gesicht. Sie kam aus der Toskana,
eine beleibte Bäuerin, die auch in der Nonnenkluft so durch die Flure ging, mit
hochgekrempelten Ärmeln, in der Hand die Bettpfanne oder das Medikamententablett,
als ginge sie zu Hause auf und ab, auf einem Meierhof in der Umgebung von
Florenz, inmitten von Federvieh, Haustieren und einer Schar Kinder. Ins
Krankenzimmer brachte sie die gleichmütige Ruhe und Sachlichkeit des Bauern.
Nichts berührte sie, alles interessierte sie, sie schätzte den Rohstoff, ein
blutiges Stück Watte warf sie mit demselben Bedauern weg wie ein faules Ei; sie
bedauerte, dass sie es nicht mehr verwenden konnte. Ihre Überlegenheit, ihr
immer spöttisches Lächeln, wie sie stehen blieb, die Hände in der Hüfte, groß
und stämmig, über dem im Krankenbett ausgebreiteten menschlichen Elend, all das
beruhigte die Kranken mehr als lispelndes und jammerndes, falsches und
mechanisches Mitleid. Die Kranken fühlten sich zu der gleichmütigen, sachlichen
Dolorissa hingezogen, die kein Blatt vor den Mund nahm, zu diesem bäuerlichen
Schutzgeist, dessen vernarbtem Gesicht weder ein Alter noch der Ausdruck eines
Gefühls anzusehen waren. Sie war alterslos, wie eine, die all ihre weiblichen
Eigenschaften abgelegt hatte. Nicht nur die Nonnentracht verhüllte ihre
Persönlichkeit, sie selbst wollte auch nicht mehr anders wahrgenommen werden
und sein als ein Geist mit mechanischer Barmherzigkeit, frei von jeglicher
Persönlichkeit. Die Kranken fühlten sich zu ihr hingezogen, und die Ärzte
riefen immer sie zu Hilfe, wenn Schwerkranke versorgt werden mussten.
    Â»Ich bin ruhiger«, sagte der Professor einmal, »wenn Dolorissa am
Bett steht.«
    Die Sterbenden tröstete sie nicht, wortkarg und sachgerecht sprach
sie mit ihnen über das Sterben und den Tod. In Dolorissas Augen war Sterben
ebenso natürlich und einfach wie Hühneraugenausschneiden. Ruhig, ohne Anzeichen
von Erregung, heißem Mitleid und keuchendem Mitgefühl empfahl sie den
Sterbenden die Letzte Ölung, schrieb für sie in den gemeinschaftlichen
Krankensälen die letzte Nachricht, betete über ihren Betten, wenn der Kranke
mit dem Tod rang und die Augen noch nicht geschlossen hatte. Diese sonderbare,
unbarmherzige Sachlichkeit erschreckte die Kranken nicht. Die Sterbenden riefen
nach Dolorissa, und sie kam immer zur rechten Zeit. Dick, gleichmütig, die
Hände über dem Bauch gefaltet, blieb sie am Krankenbett stehen und sagte
nichts, sondern sah den Kranken nur mit dem unpersönlichen Interesse eines
Leichenbeschauers aufmerksam an, suchte auf dem von Qualen und Todesschweiß
klebrigen Gesicht die bekannten Zeichen, zuckte dann mit den Schultern, brachte
ein Medikament, gab eine Speise oder ein Erfrischungsgetränk, zündete zwei
Kerzen an und begann zu beten. All das wusste ich, wie man überall, wo Menschen
ohnmächtig leben, eingeschlossen in

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