Die Schwester
Sie
gehörte nicht zu mir, aber sie besaà Macht und einen starken Willen. Sie
herrschte über mich, mit unerbittlicher Inbesitznahme, überlegen und groÃherzig
hob sie den Körper in die Besinnungslosigkeit dieses überirdischen,
übersinnlichen Seins. Und sie gab sogar etwas dazu, gab mehr als irdische
Liebhaberinnen, als alle Mittel und Methoden, mit denen Lust und Arbeit jemals
das auf dem Boden des menschlichen Lebens winselnde, quälende Warten betäuben
konnten. Sie gab das Entzücken der völligen Freiheit von Schuldbewusstsein, das
Gefühl, am Grunde des Seins gebe es kein Gut und Böse, sondern nur die absolute
Vernichtung und die vollkommene Wiedergeburt.
Dies haben mir Frauen niemals gegeben. Davon wusste die wache Lust
nichts. Dies gaben auch nicht die Augenblicke, in denen nach der besorgten,
qualvollen Ãbung der Arbeit endlich die reine Musik erklang, das transzendente
Produkt von Disziplin und Trance. Es war sogar mehr, denn es wurde nicht von
Lüsternheit, Ehrgeiz, Schuldbewusstsein und dem verbietenden Wort der Moral des
Verstandes gestört. Und doch weniger, als die Welt dem Körper und der Seele im
Wachen gibt, weil auf die kurzen Augenblicke des Glücks jene andere
Bewusstlosigkeit folgte, die nicht mehr Schlaf war und noch nicht Tod. Aber für
das Bewusstsein waren sie das Nichts, die schreiende und zusammenbrechende,
dumme Bewusstlosigkeit. Und in diesen halb toten Momenten wusste ich, dass man
nur durch sein Bewusstsein hindurch für Augenblicke ohne Schuldgefühle
glücklich sein kann.
Das war das âºchemische Stelldicheinâ¹, jede Nacht ein geheimnisvolles
Verhältnis mit einer Geliebten, die nichts verlangte und alles gab. Und wie
jegliches Glück, das mit dem Körper zu tun hat, folgte auch auf diese Stunden
der heiklen unmoralischen nächtlichen Bewusstlosigkeit am nächsten Tag unweigerlich
der Kater. Die Ãbelkeit, Abgeschlagenheit und alle Symptome des Selbstekels,
die den Alkaloiden nachschleichen, meldeten sich in den Vormittagsstunden mit
mächtiger, schadenfroher Kraft, und der Professor blieb jeden Vormittag mit
überlegenem Lächeln vor meinem Bett stehen, als betrachtete er schulterzuckend
die natürlichen Qualen der Tagesnüchternheit eines chronischen Alkoholikers.
Diese Ãbelkeit, die auf die Spritzen folgte, erinnerte mich an das akute und
ekelhafte Gefühl der Seekrankheit, aber das Bett war auch bei Tage nicht die terra firma, wo der Kranke auf Gleichgewicht hoffen konnte.
Die körperliche und seelische Ãbelkeit, die auf das âºchemische Stelldicheinâ¹
folgte, krönte die Schmerzen des Körpers mit neuartigen Leiden. Für die Gefühllosigkeit,
für das kurze Glück der nächtlichen Stunden musste ich am Tage trotzdem
»zahlen«, und noch dazu nicht nur mit der Ãbelkeit und dem Unwohlsein, die den
Körper zum Würgen brachten. Als wäre das nächtliche, chemische Glück
tatsächlich ein unmoralisches, unwürdiges Abenteuer, ein Abstecher aus dem
Zustand der Regeln und Ãbereinkünfte, an den man sich am folgenden Tag nicht
gern zurückerinnert. Blamier mich nicht, mein schönes Kind,
und grüà mich nicht unter den Linden â dieser Wunsch des Dichters, dieses
Gemisch aus Selbstironie, Scham, feigem und kriecherischem Verstecken nach der
Ekstase nächtlicher Stunden, durchdrang auch mich in der Helligkeit des Tages.
Er forderte Rechenschaft und verschlimmerte meine Lage über den Schmerz hinaus
mit Qualen und dem neuen Gefühl der Selbstverachtung. Nicht nur wegen des
verständnisvollen und dennoch sanft spöttischen Blicks des Professors schämte
ich mich, nicht nur das mechanische Grinsen des Unterarztes löste diese Scham
in mir aus, als hätte ich mich im feuchten Schatten der schmutzigen Totenlaken
der Nacht dem schmierigen Abenteuer einer verdächtigen und verachtungswürdigen
Leidenschaft hingegeben. Auch ohne Zeugen war ich von dem Wissen durchdrungen,
dass dieses âºchemische Stelldicheinâ¹ kein unschuldiges Abenteuer war, dass
dieses verdächtig gute Gefühl der Lust, ja der höchsten Stufe der Lust und der
Vernichtung, kein moralisches Unterfangen sein konnte und dass ich vergeblich
mit einem Kater bezahlte, der Schmerz mich vergeblich zu einem gewissen
Auserwählten machte. Denn auf verantwortungslose Lust hat niemand ein Recht,
der lebt. Es war so das Grundgefühl eines »Reden wir
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