Die Schwestern des Lichts - 3
auf dem Boden neben dem Knochenhaufen hockte. »Erst seit dem Winter kommen sie hierher. Die Knochen scheinen sie nicht mehr abzuhalten. Der Grund dafür ist mir ein Rätsel.«
Adie lebte schon lange im Paß. Niemand kannte seine Gefahren so gut wie sie, seine Eigenarten, seine Launen. Niemand wußte besser als sie, wie man hier in Sicherheit lebte, hier am Scheitelpunkt zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, am Rande der Unterwelt. Natürlich, die Grenze war jetzt verschwunden. Eigentlich sollte es hier sicher sein.
Er fragte sich, was sich sonst noch abspielte, was sie ihm verheimlichte. Magierinnen verrieten einem nie alles, was sie wußten. Warum lebte sie noch immer hier, zwischen diesen seltsamen und gefährlichen Dingen? Dickköpfig, diese Magierinnen, allesamt.
Adie humpelte leicht, als sie den nur vom Feuer beleuchteten Raum durchquerte. »Soll ich die Lampe anzünden?«
Zedd, der ihr hinterherlief, deutete auf den Tisch. Die Lampe entzündete sich von selbst. Ihr sanfter Schein gesellte sich zu dem des Feuers im großen, aus glatten Flußsteinen gebauten Kamin und erhellte die dunklen Wände des Raumes. An jeder Wand waren weiße Knochen untergebracht. Eine Wand war von Regalen gesäumt, die bis zum Überquellen mit den Schädeln gefährlicher Bestien vollgestopft waren. Viele der Knochen waren zu rituellen Gegenständen umgearbeitet worden, einige zu Halsketten, die mit Federn und Perlen verziert waren, manche waren mit alten Symbolen beschriftet. Um manche war an der Wand ein Zauberspruch gemalt. Es war die eigentümlichste Sammlung, die Zedd je zu Gesicht bekommen hatte.
Er zeigte mit seinem knochigen Finger auf ihren Fuß. »Wieso humpelst du?«
Adie blieb stehen und warf ihm einen Seitenblick zu, während sie einen Schöpflöffel von einem neben der Feuerstelle in die Wand eingelassenen Haken nahm. »Der neue Fuß, den du mir hast wachsen lassen, ist zu kurz.«
Zedd stemmte eine Hand in seine knochige Hüfte, stützte sein glattrasiertes Kinn in seine astdürren Finger und besah sich ihren Fuß. Ihm war nicht aufgefallen, daß er zu kurz war, als er ihn wieder hatte wachsen lassen – er hatte gleich danach aufbrechen müssen. »Vielleicht könnte ich den Knöchel etwas nachwachsen lassen«, überlegte er laut. Er nahm die Hand vom Kinn und fuchtelte damit in der Luft herum. »Die beiden Beine angleichen.«
Adie funkelte ihn über die Schulter an, während sie in ihrem Eintopf rührte. »Nein, vielen Dank.«
Zedd war erstaunt. »Wäre es dir nicht lieber, wenn beide Beine gleich lang wären?«
»Ich weiß zu schätzen, daß du meinen Fuß hast nachwachsen lassen. Mit zweien ist das Leben leichter. Ich wußte nicht, wie sehr ich die Krücke gehaßt habe. Aber der Fuß ist gut, so wie er ist.« Sie setzte die langstielige Kelle an die Lippen und pustete in die heiße Suppe.
»Es wäre noch leichter, wenn beide Füße gleich wären.«
»Ich habe nein gesagt.« Sie probierte die Suppe.
»Verdammt, meine Liebe, warum nicht?«
Adie schlug die Kelle am Rand des Eisenkessels aus und hängte sie zurück an ihren Haken, dann nahm sie eine verbeulte Büchse vom Kaminsims und schraubte den Deckel auf. Ihre Stimme klang ruhig, schnarrte nicht mehr so wie zuvor. »Ich möchte diese Schmerzen nicht noch einmal durchmachen. Hätte ich gewußt, wie das ist, ich hätte mich entschieden, den Rest meines Lebens ohne den Fuß zu ertragen.« Sie steckte ihre Hand in die Büchse, entnahm ihr eine Prise Fünfkraut und warf sie in den Eintopf.
Zedd zupfte sich am Ohr. Vielleicht hatte sie recht. Ihr den Fuß nachwachsen zu lassen, hatte sie fast umgebracht. Er hatte nicht mit diesen Folgen gerechnet, mit dieser Reaktion auf die große Menge Magie, die er bei ihr eingesetzt hatte. Trotzdem hatte er Erfolg gehabt, hatte ihr die schmerzhaften Erinnerungen nehmen können, wenn er auch noch immer nicht wußte, worum es dabei ging.
Er hätte das Zweite Gesetz der Magie bedenken sollen, aber er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihr etwas Gutes zu tun. So ging das mit dem Zweiten Gesetz: normalerweise ließ sich schwer sagen, ob man gerade dagegen verstieß.
»Du kennst den Preis der Magie, Adie, fast ebenso gut wie ein Zauberer. Außerdem habe ich es wieder wettgemacht. Die Schmerzen, meine ich.« Er wußte, daß für das Verlängern des Knöchels nicht soviel Magie erforderlich war wie für das Nachwachsen des Fußes, aber nach allem, was sie durchgemacht hatte, hatte er Verständnis für ihr
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