Die Schwestern des Lichts - 3
und hob ihn mit beiden Händen auf. Mit seinen dünnen Fingern strich er über die spitz zulaufenden, gebogenen Reißzähne, die so lang waren wie seine Hand. Der Schädel war an der Unterseite flach, er hätte nicht vom Regal rollen dürfen. Unter Adies Blicken legte er ihn sicher an seinen Platz zurück.
»Wie es aussieht«, meinte sie mit ihrer schnarrenden Stimme, »gefällt es den Knochen in letzter Zeit auf dem Fußboden. Ständig fallen sie runter.«
Zedd kehrte auf seinen Platz zurück, nachdem er dem Schädel noch einen letzten finsteren Blick zugeworfen hatte. »Erzähl mir von den Knochen, wozu du sie hast, was du mit ihnen tust, alles. Fang ganz von vorne an.«
»Alles.« Sie verschränkte die Arme im Schoß und sah für einen kurzen Augenblick so aus, als wollte sie zur Tür hinausrennen. »Das ist eine schmerzliche Geschichte.«
»Nie wird auch nur ein einziges Wort über meine Lippen kommen, Adie.«
22. Kapitel
Adie holte tief Luft. »Ich wurde in der Stadt Choora geboren, im Land Nicobarese. Meine Mutter besaß die Gabe der Magie nicht. Sie war eine Aussetzerin, wie man das nennt. Vor mir hatte sie als letzte meine Großmutter Lindel besessen. Meine Mutter war den guten Seelen dankbar, daß sie eine Aussetzerin war, jedoch verbittert darüber, daß ich die Gabe hatte. In Nicobarese verabscheute man jene, die die Gabe besaßen, und mißtraute ihnen. Man glaubte, die Gabe stünde nicht nur mit dem Fluß der Kraft des Schöpfers in Verbindung, sondern auch dem des Hüters. Selbst wer seine Gabe für einen guten Zweck einsetzte, erregte den Verdacht, ein Verderbter zu sein. Du hast von diesen Verderbten gehört, oder?«
Zedd brach ein Stück Brot ab. »Ja. Das sind die, die sich dem Hüter zugewandt haben. Sich ihm verschworen haben. Sie verstecken sich im Licht wie auch im Schatten, sind ihm zu Diensten und arbeiten für seine Ziele. Es kann jeder sein. Einige arbeiten jahrelang im Guten, verstecken sich und warten darauf, berufen zu werden. Aber wenn sie berufen werden, dann tun sie, was der Hüter von ihnen verlangt.
Man kennt sie auch unter anderen Namen, doch sie alle sind Agenten des Hüters. In einigen Büchern werden sie dementsprechend als Agenten bezeichnet. Einige von ihnen sind wichtige Leute, wie Darken Rahl, die für wichtige Aufgaben eingesetzt werden. Andere sind ganz gewöhnliche Menschen, dir für kleine Bösartigkeiten benutzt werden. Die, die wie Rahl die Gabe besitzen, sind für den Hüter am schwersten umzudrehen. Bei denen ohne die Gabe ist es einfacher, aber auch die sind selten.«
Adie riß die Augen auf. »Darken Rahl ist ein Verderbter?« Zedd zog eine Braue hoch und nickte. »Hat er mir gegenüber selbst zugegeben. Er sagte, er sei ein Agent. Aber das ist dasselbe, welches Wort man auch benutzt, und ich habe eine Menge davon gehört. Sie alle dienen dem Hüter.«
»Das sind schlimme Neuigkeiten.«
Zedd wischte ein wenig Suppe mit dem Kanten auf. »Ich bringe nur sehr wenig gute. Du wolltest gerade von deiner Großmutter Lindel erzählen?«
»In Großmutter Lindels Jugend wurden Magierinnen für alles hingerichtet, was das Schicksal mit sich brachte: Krankheit, Unfälle, Totgeburten. Ungerechterweise hingerichtet, weil man sie für Verderbte hielt. Einige der Begabten wehrten sich gegen diese ungerechten Maßnahmen. Und zwar mit Erfolg. Das vertiefte den Haß noch und führte dazu, daß sich viele aus dem Volk von Nicobarese in ihrer Angst noch bestätigt fühlten.
Schließlich gab es einen Waffenstillstand. Die Führer der Nicobareser erklärten sich einverstanden, die Frauen mit der Gabe in Ruhe zu lassen, wenn sie einen Eid auf ihre Seele schwörten und dadurch bewiesen, daß sie keine Verderbten waren – einen Schwur, der ihnen verbot, von ihrer Kraft Gebrauch zu machen, es sei denn, sie bekamen von einem Vertreter der Regierung die ausdrückliche Erlaubnis. Dieser Schwur vor dem sogenannten Kreis des Königs war ein Schwur an das Volk. Ein Schwur, die Gabe nicht einzusetzen, die Kunde des Hüters nicht zu verbreiten.«
Zedd hatte den Mund voll Suppe und schluckte. »Wieso sollte jemand auf den Gedanken kommen, daß Magierinnen Verderbte sind?«
»Weil es einfacher ist, eine Frau für seinen Kummer verantwortlich zu machen, als die Wahrheit zuzugeben, und weil es befriedigender ist, jemandem aus Fleisch und Blut die Schuld zuzuschieben, als das Unbekannte zu verfluchen. Wer die Gabe hat, benutzt eine Kraft, die den Menschen helfen, sich aber gegen sie richten
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