Die Schwestern des Lichts - 3
Richard. Um zu helfen. Was ist das für ein Ärger?«
»Der Hüter…«
»Der Namenlose«, verbesserte sie.
»Was macht das für einen Unterschied?«
»Ihn beim Namen zu nennen, weckt seine Aufmerksamkeit.«
»Ann, das ist doch nur ein Wort. Die Bedeutung eines Wortes zählt, nicht die Zusammensetzung der Buchstaben. Glaubt Ihr, wenn Ihr den Hüter statt dessen den Namenlosen nennt, daß er sich dadurch täuschen ließe und nicht wüßte, daß Ihr von ihm sprecht? Es ist ein Fehler, seine Feinde für dumm zu halten und sich selbst für zu schlau.«
Ein herzhaftes Lachen entfuhr ihrer Brust. »Ich habe sehr lange darauf gewartet, daß jemand darauf kommt.«
Sie blieb mit ihm am Rand des Teiches stehen, und er fragte: »Was ist ›der Kiesel im Teich‹?«
Sie blickte über das Wasser. »Du bist einer, Richard.«
»Soll das heißen, daß es mehr als einen gibt?«
Ein kleiner Stein schwebte durch die Luft, hinauf in ihre Hand. »Jeder hat eine Wirkung auf andere. Manche Menschen inspirieren andere dazu, Großes zu tun. Manche ziehen andere mit sich ins Verderben. Die Menschen, die die Gabe besitzen, haben einen noch größeren Einfluß auf ihre Umgebung. Je stärker das Han, desto größer die Wirkung.«
»Und was hat das mit mir zu tun? Was hat das mit dem Kiesel im Teich zu tun?«
»Siehst du die Entengrütze, die auf der Oberfläche treibt? Nimm einmal an, das sind die anderen Menschen, die Welt der Lebenden, und dieser Kiesel, das bist du.« Sie warf den Stein in den Teich. »Siehst du, was geschieht? Die von dir hervorgerufenen Wellen beeinflussen alle anderen. Ohne dich wäre es zu all diesen Wellen nicht gekommen.«
»Sie treiben also auf und ab, auf den Wellen. Doch der Stein geht unter.«
Sie lächelte ihn ohne jeden Humor an. »Vergiß das nie.«
Die Antwort machte ihn nachdenklich. »Ich glaube, Ihr setzt zu viel Vertrauen in mich. Ihr wißt doch gar nichts über mich.«
»Vielleicht mehr, als du denkst, Junge. Und was besorgt dich am Hüter so?«
»Es muß etwas geschehen. Er kann jeden Augenblick entkommen. Eines der Kästchen der Ordnung wurde geöffnet, das Tor steht offen. Der Stein der Tränen befindet sich in dieser Welt. Ich muß etwas tun.«
»Ahh.« Sie lächelte und blieb langsam stehen. »Du, der du gerade eben vom Han einer einfachen Schwester an die Wand geworfen wurdest, du willst also ausziehen und höchstpersönlich gegen den Hüter kämpfen?«
»Aber es ist viel passiert. Es muß etwas geschehen.«
»Wie ich sehe, hast du mit Warren gesprochen. Ein sehr heller junger Mann, dieser Warren. Doch er ist noch sehr jung. Manchmal braucht er Führung. Anleitung.« Sie zog einen Ast näher heran. »Er studiert hart und liebt diese Bücher. Bestimmt kennt er jeden Fingerabdruck auf ihnen.«
Sie betrachtete eine Blüte auf dem Ast. Während er sich so im Mondschein betrachtete, entschied er, daß er sich vielleicht doch für etwas schlauer gehalten hatte, als er war. Warren ebenfalls.
»Und was ist nun mit dem Hüter? Was ist mit dem Stein der Tränen?«
Sie hakte sich wieder bei ihm ein und führte ihn weiter. »Wenn das Tor offensteht und der Stein der Tränen sich in dieser Welt befindet, Richard, wieso hat der Hüter uns dann nicht längst überwältigt? Hmm?«
»Vielleicht steht er kurz davor, uns alle jeden Augenblick zu verschlingen.«
»Aha. Du glaubst also, er ist vielleicht noch mit seinem Abendessen beschäftigt, und wenn er damit fertig ist, dann kommt er endlich dazu, die Welt alles Lebendigen zu verschlingen. Und deshalb willst du losrennen und das Tor schließen, bevor er sich die Serviette vom Schoß nimmt? Glaubst du tatsächlich, so funktioniert die Welt jenseits der unseren? Auf dieselbe Weise wie die unsere auch?«
Richard fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie das alles funktioniert. Warren meinte jedenfalls…«
»Warren weiß auch nicht alles. Er ist nur ein Schüler. Er ist begabt, was die Prophezeiungen anbetrifft, aber er hat noch viel zu lernen.
Weißt du, warum wir die Prophezeiungen unten in den Gewölbekellern aufbewahren und beschränken, wer sie lesen darf? Aus demselben Grund, weshalb wir auch diese Diskussion führen. Weil Prophezeiungen für den ungeschulten Verstand gefährlich sind, manchmal sogar für den geschulten. An den Dingen ist oft mehr, als einem ins Auge fällt, sonst hätte der Hüter uns längst übermannt.«
»Wollt Ihr damit sagen, wir würden nicht in Gefahr
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