Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
Vom Netzwerk:
dass die beiden überhaupt noch lebten, ging ihr auf. Sie fragte sich plötzlich, ob das Paket irgendetwas mit ihrer Mutter zu tun haben konnte. Doch das schien ihr unwahrscheinlich. Ihre Mutter war zwar Engländerin gewesen, doch sie war bereits kurz nach ihrer Geburt nach Deutschland gekommen und hatte ihr immer erzählt, dass es in England keine Verwandten mehr gäbe. Melinda ging mit einem Mal auf, wie wenig sie eigentlich von dem englischen Familienzweig wusste.
    Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Eine junge Frau mit geflochtenem blonden Zopf tauchte auf der Schwelle auf. Es war Lisa, die mit ihrem vierjährigen Sohn Karl das Nachbarzimmer bewohnte. Sie trug einen Mantel.
    »Ich muss jetzt los. Karl schläft, wenn etwas ist, würdest du nach ihm sehen?«, bat sie.
    »Natürlich. Mach dir keine Gedanken«, erwiderte Melinda. Lisa hatte eine Stelle in der Nachtschicht im Krankenhaus angenommen, damit sie sich tagsüber um ihren Sohn kümmern konnte. Wenn Melinda zu Hause war, gab sie in diesen Zeiten auf den Kleinen acht.
    »Wenn er aufwacht, hole ich ihn zu mir!«, sagte sie freundlich.
    »Danke.« Lisa blickte sie erleichtert an. Sie sah blass und erschreckend dünn aus – selbst in ihrem Mantel. Schuld daran war nicht allein die Nachtarbeit, wie Melinda wusste, sondern dass ihr Sohn krank gewesen war und Lisa sich von ihrer knappen Lebensmittelration die Hälfte abgespart hatte, damit er genug zu essen bekam.
    »Es tut mir leid, dich damit zu belästigen.«
    Melinda winkte ab. »Ich mache das gern«, versicherte sie.
    Als die junge Frau gegangen war, starrte sie einen Augenblick auf die Tür. Lisas Mann war bei dem Russlandfeldzug gefallen, und nun musste sie sich und Karl allein durchbringen. So wie ihr ging es vielen Frauen. Sie waren die eigentlichen Verlierer dieses Krieges. Melinda überlegte, ob das nicht ein interessantes Thema für ihre Reportage sein könnte. Seufzend packte sie die Briefe und Bilder zusammen, denn sie merkte plötzlich, dass ihr Magen knurrte. Sie musste etwas essen und unbedingt noch arbeiten.
    Während sie sich in der Küche aus zwei Kartoffeln und einer verschrumpelten Rübe eine karge Mahlzeit kochte, machte sie sich Notizen zu dem Artikel, um den Scholz sie gebeten hatte. Dabei verfestigte sich ihre Idee, etwas über das Schicksal der Frauen nach dem Krieg zu schreiben. Zwischendurch sah sie nach dem kleinen Karl, der glücklicherweise tief schlief.
    Es war schon spät, als sie das Paket, dessen Inhalt noch immer durch ihren Kopf geisterte, erneut hervorholte. Sie betrachtete die Bilder, die so lebendig wirkten, dass sie glaubte, den Geruch und die Feuchtigkeit des Moores zu spüren. Schließlich ergriff sie einen weiteren Brief und begann zu lesen.
    4
     
    I rene und sie hatten sich in einem der Cafés in der Nähe des Kurfürstendamms verabredet, das trotz der Kälte geöffnet hatte. In den Ruinen der Häuser waren sie nach dem Kriegsende wie Pilze aus dem Boden geschossen, doch in diesen Wintermonaten hatten viele Cafés wegen der Knappheit des Heizmaterials vorübergehend wieder schließen müssen. Wie immer wusste Irene jedoch genau, wo man hingehen musste. Sie war eine Überlebenskünstlerin. Selbst in ihrem abgetragenen Mantel und Schal hatte sie nichts von ihrer Eleganz verloren, dachte Melinda. Die beiden Frauen, die an einem der Tische Platz genommen hatten, kannten sich seit frühester Kindheit. Schon immer waren sie befreundet gewesen, doch die Erlebnisse der Kriegsjahre hatten sie noch enger zusammengeschweißt. Es gab niemanden, dem Melinda so vertraute wie Irene.
    Ungläubig blickte die Freundin jetzt von den beiden Briefen auf, die sie ihr gezeigt hatte. »Und du hast keine Ahnung, wer dir das geschickt haben könnte?«
    Melinda schüttelte den Kopf. »Nicht die geringste!«
    Sie war aufgewühlt – bis tief in die Nacht hatte sie die Briefe gelesen, die ihr mehr und mehr Details dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte enthüllten – einer Liebesgeschichte von zwei Menschen, die sie nicht einmal kannte und die sie dennoch in einer Weise bewegte, die sie sich nicht erklären konnte.
    Die Wirtin war an ihren Tisch gekommen, und Melinda beobachtete, wie Irene sie wie eine gute alte Bekannte begrüßte und für sich und Melinda zwei Tassen Muckefuck bestellte – ein Ersatzkaffee aus Malz, denn echten Bohnenkaffee gab es zurzeit fast nirgends.
    Immerhin – es war warm hier und voll. Melinda warf einen kurzen Blick auf die angeregt plaudernden

Weitere Kostenlose Bücher