Die Séance
unschuldigen Mann erschießen und dann behaupten würden, der Mörder wäre lediglich ein Nachahmer gewesen.
Das durfte nicht passieren.
Die Wahrheit musste ans Licht kommen.
Der Tod von Beau und die überall akzeptierten Anschuldigungen danach hatten ihr Leben und den Ruf ihrer Familie ruiniert. Ihre Mutter war nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Sie konnten nur deshalb überhaupt hier wohnen bleiben, weil sie ein paar wirklich gute Freunde hatten, Menschen, die wussten, dass Beau unmöglich schuldig sein konnte, ganz egal, was alle anderen behaupteten.
Aber sie hatte, als sie aufwuchs, wirklich schlimme Zeiten durchmachen müssen. Sehr schlimme Zeiten. Heranwachsende sind ja oft von Natur aus grausam, dauernd wurde auf sie gezeigt, hinter ihrem Rücken geflüstert. Sie hatte in der Highschool schnell gelernt, sich lieber von den Jungs fernzuhalten, sich keiner der Cliquen anzuschließen. Wenn sie keine Aufmerksamkeit erregte, würde sie auch das Flüstern nicht mitbekommen.
Sie war nicht auf eines der weit entfernten Colleges gegangen, aber irgendwie hatte sie in Gainesville auch erlebt, dass es Menschen gab, die Vergangenheit einfach Vergangenheit sein ließen. Dieses nahe gelegene kleine Universitätsstädtchen hatte sie sich ausgesucht, um immer in der Nähe ihrer Eltern zu sein, falls ihre Mutter in eine ihrer Depressionen fiel.
Sie hatte Theaterwissenschaften studiert, mit dem Schwerpunkt Bühnenbild. Auf diesem Gebiet hatte sie jetzt den richtigen Job gefunden, und sie begann, sich einen Ruf zu erarbeiten. Sie kam gut zurecht.
Na prima. Sie war fünfundzwanzig, wohnte noch bei ihren Eltern und hatte keine Verabredungen.
Sie hielt kurz an, blickte durch den schmiedeeisernen Zaun. Der Friedhof war wirklich sehr schön, dachte sie. So viele alte Eichen, aber schließlich war es auch ein sehr alter Friedhof. Sie lächelte und dachte an die vielen Leute aus anderen Gegenden, mit denen sie zusammenarbeitete. Jede Menge New Yorker, viele aus dem Mittleren Westen. Für die war Florida etwas ganz Neues und Aufregendes. Sie hatten keine Ahnung, wie alt manche der kleinen Orte und Städte waren. Ihr Weg führte unter dem herabhängenden Spanischen Moos durch, das von den Eichen hing und wie Tränen aussah.
Viele der Grabsteine waren uralt, einige zerbrochen, andere von Flechten überwuchert, was dem Friedhof eine einsame und gespenstische Aura verlieh. Selbst der Bürgersteig war an manchen Stellen aufgesprungen, Baumwurzeln brachen sich ihre Bahn durch den Asphalt. Viel zu oft kümmerte sich die Stadt nur um das Neue, wenn es darum ging, was repariert werden sollte. Nur allzu selten um die alten Dinge.
Sie wollte gerade den eigentlichen Friedhof betreten, als eine Welle von Kälte über sie schwappte. Gleich danach hatte sie das starke Gefühl, verfolgt zu werden. Sie drehte sich um, aber die Sonne schien ihr direkt in die Augen.
Plötzlich hörte sie, wie ein Motor aufjaulte, und ein Fahrzeug raste an ihr vorbei, was einen Adrenalinschub durch ihre Adern schickte.
Hatte jemand vorgehabt, sie anzufahren? Oder wurde sie langsam paranoid, hatte Angst vor Bedrohungen, die nur in ihrer Vorstellung existierten?
Sie drehte sich erneut um und sah eine Frau auf sich zukommen, eine große Rothaarige, mit überwältigenden blauen Augen, die einen Jack-Russell-Terrier im Arm hielt. Hinter ihr kam eine weitere Frau, dann zwei Männer, der eine älter, der andere blond und ungewöhnlich groß.
Vielleicht waren diese Leute ihr gefolgt. Sie konnten sie vom Friedhof aus durch den Zaun beobachtet haben. Oder wurde sie von der Person verfolgt, die eben so überhastet im Auto das Weite suchte, weil …
Weil diese Spaziergänger lästige Zeugen gewesen wären, wenn ihr etwas zugestoßen wäre.
“Hallo”, sagte die Rothaarige. “Katherine? Katherine Kidd?”
“Ja. Und wer sind Sie?”, fragte Katherine umgehend zurück.
“Ich bin Christina Hardy. Ich … na ja, ich weiß, das mag Ihnen seltsam erscheinen, aber mein Großvater wurde am selben Tag beerdigt wie Ihr Bruder. Ich … habe damals ein paar Blumen auf sein Grab gelegt.”
“Woher wussten Sie, wer ich bin?”, fragte Katherine.
“Sie sehen aus wie Ihr Bruder”, sagte Christina.
“Ich sehe aus wie mein Bruder?”
“Ich habe Fotos von ihm gesehen”, sagte Christina schnell. “Und das sind Freunde von mir”, und sie stellte die anderen vor.
“Wie geht es Ihnen?”, sagte Katherine höflich.
Sie fragte sich, ob sie Angst haben sollte. Sie waren zu
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