Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Schüchternheit. Sie isst kein Brot, er nimmt eine Scheibe aus dem Korb und ist für einen Augenblick unsicher, ob er sie mit der Hand brechen oder direkt abbeißen soll. Schließlich beißt er hinein. Er hat breite, weiße, starke Zähne. Jetzt ist sie an der Reihe, ihn zu betrachten. Er spürt das und will schnell seine Hände verstecken. Das Hemd klebt ihm am Körper vom Schweiß. Wie kann er, der in seiner Prosa so frech, so fernab jeder Konvention ist, derartig zurückhaltend ihr gegenüber sein? Ich fange an zu glauben, die brutale Sprache ist bei den meisten Postmodernisten reine Angeberei, reine Pose, er scheint ja in meiner Gegenwart wirklich ein Engel zu sein. Mogelt er wohl manchmal? Alles, was sie an ihm sieht, müsste sie eigentlich abstoßen, er ist das Gegenteil ihres Männerideals. Und doch betrachtet sie ihn immer noch mit wachsendem Interesse, ich würde nicht lügen, wenn ich zugäbe, ich bin aufgeregt. Wenn du noch Suppe willst, bedien dich. Ich gehe das Fleisch und die Kartoffeln in den Ofen stellen, damit sie warm bleiben. Sie rief aus der Küche herüber. Ich habe mich gerade daran erinnert, heute Morgen, als du kamst, hast du mich gefragt, warum ich verärgert sei. Ich war im Brotladen, und du weißt ja, da glucken die Nachbarn immer zusammen, um über Politik und Fußball zu reden. Ich kann dir gar nicht sagen, was sie da alles von sich gaben. Du hast bestimmtgehört, dass der König in Alba Iulia ist. Sie regen sich schon auf, wenn die Rede auf Ungarn und Juden kommt, aber du hättest sie jetzt mal hören sollen. Anna ist mit dem Küchenhandtuch über dem Arm ins Zimmer gekommen. Nimm noch Brot, willst du keinen Pfeffer? Sie hörten gar nicht mehr auf, ihn zu beschuldigen, er käme, um seine Paläste zurückzufordern und das Land auszubeuten. Ein so unglücklicher, bescheidener König, der dem einfachen Volk so nahe ist … die kapieren gar nichts, sie sind schlimmer als die Tiere … sie verschwindet wieder in der Küche … und wenn es so wäre. Es wäre irgendwie nur rechtens, wenn er sein Eigentum zurückbekäme und hier im Land bliebe, nicht wahr? Sie kehrt zurück, das Messer in der Hand. Sie redet von der Tür her. Du hast die Monarchie nicht mehr erlebt, als Bessarabien und die Bukowina noch zu uns gehörten, als es noch Rumänen wie Titulescu gab, als Übersetzungen im selben Jahr erschienen wie die Originale, als erstrangige Künstler und Wissenschaftler uns besuchten, diese Zeiten hast du nicht miterlebt, die Oltenen mit Joch auf den Schultern, die Petroleumhändler mit Ringen in den Ohren, heute, wo alle Jugendlichen Ohrringe tragen, ist das nichts Besonderes mehr, die »iaurgii«, wie man die Joghurtverkäufer nannte, die von Gaslaternen erhellten Nächte und die seltsame Aufregung, die ein elfjähriges Mädchen überkam, wenn die Dunkelheit sommers erst spät hereinbrach und die Nachtwächter durch die nahe gelegenen Straßen huschten. Bukarest hatte damals eine unwiderstehliche Anziehungskraft, es gab Blumenfrauen, Schuhputzer, aber es gab auch die unvergleichliche Zwischenkriegsliteratur, da waren Călinescu und Vianu und Ralea, da waren inTschernowitz noch Paul Celan und Joseph Schmidt, da waren die Antiquare am Mihai Vodă, bei denen wir später unsere logarithmischen Tafeln in Bücher von Freud oder Weininger umtauschten, die damals Furore unter den jungen Leuten machten. Ich fürchte, dass meine viel zu pittoreske Beschreibung all dieser Sachen die historische Wirklichkeit in deinen Augen idyllisch erscheinen lässt, vielleicht schade ich damit der objektiven Wirklichkeit , wie man zu sagen pflegt, aber ich ziehe es vor, dir die sentimentale Seite der Dinge zu zeigen, die andere, die theoretische, ist ja das Vorrecht der Historiker. Unsere Anteilnahme für König Mihail I., die Anteilnahme der Schüler und Studenten, sie stellt die tiefen Teller zusammen, auf deren Rändern noch ein paar Petersilienblätter kleben, die erreichte ihren Höhepunkt am 8. November während einer dramatisch verlaufenden Demonstration vor dem Königspalast. Ein Schüler vom Mihai-Viteazu-Lyzeum, er war groß und schlaksig, mit einem mädchenhaften Gesicht, und alle waren wir in ihn verliebt, hatte uns ein paar Tage zuvor handgeschriebene Manifeste überreicht, mit denen wir an einem Arbeitstag um 10 Uhr morgens – der 8. November war kein Nationalfeiertag mehr – auf die Piaţa Palatului bestellt wurden. Sicher hatte jemand die Schulleitung gewarnt, denn an diesem Tag blieben alle Eingänge
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