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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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Bank gekauert, hielt ich den Kuchen, den wir zum Mittagessen bekamen, auf den Knien, und in einer Tasche meines Kittels steckte der Liebesbrief, den ich ihm jeden Tag im Bett mit einem Bleistift auf eine Heftseite schrieb. Er setzte sich neben mich, streichelte mich, und zwischen zwei Küssen malten wir uns eine Nacht aus, die bis zum Morgengrauen dauerte, die wir nicht bei der Hälfte abbrechen mussten. Natürlich denkst du, wie sentimental, was für ein süßliches Bild, wie eine alte Postkarte. Aber gib zu, sind es nicht genau diese Augenblicke, an die wir uns dauerhaft und deutlich erinnern, für die wir uns vor anderen schämen, und über die wir uns, um der Peinlichkeit zu entgehen, lustig machen?
    Anna hat den grünen Blick aus den Augen verloren, sie hat begriffen, sobald sie ihn nicht mehr erwartet, wird er auch nicht mehr kommen. Er existiert also nur als Produkt meiner Vorstellungskraft. Ich kann es mir gar nicht erlauben, nicht mehr auf ihn zu warten, ihn also nicht mehr zu erfinden, sonst verliere ich ihn an das Nichts. Und wenn ich ihn verliere? Du hast leicht reden, aber wenn er nicht mehr hier auf dem Stühlchen sitzt, zu deinen Füßen, dann gibt es auch dich nicht mehr. Der Grund deiner Existenz endet außerhalb der seinen, denn wenn es für dich nichts mehr zu erfinden gibt, dann verschwindestdu. Jetzt bin ich also der Willkür meiner Fiktion ausgeliefert, verwandle mich ohne sie in eine Pflanzenfrau, die atmet, sich ernährt, sich bewegt, aber nichts mehr erwartet, nicht mehr lebt. Vielleicht liebte Terry Dimi auch, ich war die Einzige gewesen, der sie diese Geschichte anvertraut hatte, und es war ihr peinlich gewesen, es zu zeigen. Sie war ihm jahrelang wie ein Schatten auf dem Bulevard Magheru hinterhergeschlichen, bis hinauf zum Triumphbogen. Der grüne Blick ist eine matte Scheibe, durch die nichts mehr zu erkennen ist. Von der Stirn bis zum Mund ist sein Gesicht vollkommen reglos, nur sein Oberkiefer vollzieht eine vage Kreisbewegung, er fährt sich mit der Zunge hinter die Zähne, vielleicht ein Krümel, der in der Vertiefung eines Zahns steckt, mit dem Gedanken kommt auch der Geruch; wenn er mir jetzt mit seinen kräftigen Kiefern die Lippen öffnet und mir seine Zunge in den Hals steckt, gelänge es mir dann, mich nicht zu übergeben und so zu tun, als gefalle es mir, als fände ich wirklichen Genuss daran? Terry damals im Gebüsch nachts im endlosen Regen beim Schriftstellerhaus mit Dimi, und Deşlius Hund pisste ihm aufs Hosenbein … Nein, sie war nicht zu verurteilen, die Neugier ist manchmal größer als die Leidenschaft, die Anziehungskraft der verschlossenen Türen, die Jagd nach ein wenig Öffentlichkeit. Terry hielt eisern daran fest, sie habe ihn nie geliebt, doch heimlich in einem verborgenen Winkel zu verschwinden sei so aufregend wie in eine unnahbare Frau einzudringen. Sie war ihm wie ein Hund auf der Straße nachgelaufen, hatte vor demselben Haus gehalten, auf denselben Klingelknopf gedrückt, dann war sie weggerannt. Sie hatte mich auf etwas aufmerksam gemacht: Siehst du, wie er seine Finger bewegt,heute ist er nervös, heute sind sie wieder hinter ihm her und er weiß das, aber wenn man einmal so weit gegangen ist, dann gibt es kein Zurück mehr. Was hatte sie damit sagen wollen? Und wenn sie doch … verstehst du, es lässt mir keine Ruhe. Ich weiß nicht, habe ich dir erzählt, wie mich der Junge in der Metro ködern wollte? Aha, plötzlich sind seine Lider aufgeklappt, in etwa so sprang das goldene Deckelchen von Vaters Taschenuhr auf. Das ist ein heikles Thema, bei der ganzen Aufregung um die Herausgabe der Akten, und die Schriftsteller stecken da sowieso alle tief mit drin, freiwillig oder unfreiwillig. »Hey, Sie sind naiv, die Kleine hat eine ganz schnuckelige Akte bei uns«, es ist hübsch, sehr hübsch, zwischen Rot und Grün über die Straße zu gehen, wenn die Autos anfahren, aber man weiß, dass sie einen nicht überfahren werden. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich mich Terry nahe gefühlt habe, war an dem Tag, als sie mich nach meiner Entlassung aus dem Kriterion-Verlag zu Volk und Kultur begleitete. Ich ging zum ersten Mal zu meiner neuen Arbeit, und ich hatte Angst. Wir blieben auf dem Flur der Casa Scînteii an einem Fenster stehen. Damals sah ich noch einmal ihr ruhiges, gutmütiges Gesicht, das bereit war, mich aufzunehmen, mich, die sie so gut kannte. Terry sagte nichts, drückte nur meine Hand, und ich merkte, dass sie feucht war. Ich hätte heulen

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