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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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Ganzes. Ich habe dann vor nichts mehr Angst, und der Tod ist weit fort. Wenn wir lieben, müssten wir eigentlich verzeihen wollen. Aber gerade dann überkommt uns so ein animalischer Rachedurst. Ich glaube, dieEitelkeit ist wie ein verwundeter Eber, er verzeiht seinem Feind nicht. Stell dir vor, über was ich gestern Morgen mit meiner Mutter gesprochen habe. Sie ist immer mit weit geöffneten Augen durchs Leben gegangen. Hat sich nie mit der glatten Oberfläche der Dinge zufriedengegeben. Alle Unebenheiten hat sie bemerkt, ihr entging nicht der kleinste Riss, und sei er so dünn wie ein Haar. Und jetzt im Alter ist es immer noch so. Was glaubst du, was sie gestern zu mir sagte? Weißt du, Anna, ich spreche jeden Abend vor dem Schlafengehen das Vaterunser. Und nachdem ich die Nachttischlampe gelöscht habe, denke ich noch eine Weile nach, bis ich einschlafe. Stell dir vor, was mir da in den Sinn kam, ich fing an, dieses Gebet zu zerpflücken, an ihm herumzukritteln, Gott verzeih mir, aber ist dieses Gebet nicht falsch, wenn es da heißt, vergib uns, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern, denn der Mensch vergibt seinesgleichen meistens nicht, die Worte dieses Gebetes sind wie eine Selbstverfluchung; ja, wenn Gott sich uns gegenüber so verhielte, wie wir mit anderen umgehen … Ich verstummte. Wie war nur ein solcher Gedanke in diesen Dämmer geraten, von dem bald nur noch ein Gehirn übrig sein würde. Großartig! Daran hatte ich nie gedacht. Du hast recht, ich glaube, dieses Gebet ist gefährlich. In dem Moment, in dem wir Gott um Vergebung bitten, so wie auch wir denen verzeihen, die uns Böses tun, macht diese Abhängigkeit uns Angst, und wir fühlen uns gezwungen, der Lüge des Gebetes zu folgen und gegen unseren Willen zu verzeihen … Aber Gott bestraft uns nicht für unsere Sünden; wir werden immer von unserem eigenen Gewissen bestraft. Wir sind fast alle davon überzeugt, dass es nach Gottes Angesichtgeformt ist. Ich glaube ja nicht, dass das Gewissen unbedingt eine Emanation des Göttlichen sein muss, aber solange es sich verändern lässt, solange es sich besänftigen lässt, heißt das, es ist uns gegeben worden, damit wir etwas Brauchbares daraus machen. Die Strafe folgt für den Einzelnen nicht immer auf einen Fehler, manchmal kommt sie einfach aus heiterem Himmel, oder sie kommt gar nicht, man könnte fast glauben, es sei reiner Zufall, und man fängt an, ihr keine Beachtung mehr zu schenken. Was die kollektiven Strafen angeht, die Massenmorde und Katastrophen, durch die wahllos Tausende, Millionen Menschen von der Erdoberfläche getilgt werden, ich glaube, nicht einmal dann rächt sich Gott an uns, weil wir Sünder wären, wie meine Nachbarinnen zu sagen pflegen, sondern weil er hin und wieder Ordnung in seinem Haus schaffen muss, so wie wir bei der Renovierung unserer Wohnung alte Zeitungen wegwerfen und Kakerlaken töten. Der grüne Blick verengt sich zur Rasierklinge, die sein Auge zerschneidet. Sie weiß nicht, warum er sie so ansieht, aus Interesse oder weil ihn dieser Satz beunruhigt. Normalerweise beschwören alte Leute öfter mal das Jüngste Gericht herauf, vielleicht weil sie in ihrem langen Leben genügend Zeit hatten zu sündigen, oder aus der üblen Angewohnheit heraus, sich alles erklären zu wollen, was wohl ebenfalls in Zusammenhang mit dem Altwerden steht. Kinder denken nicht an das Jüngste Gericht, vielleicht manchmal, aber erst nachdem sie etwas Unerlaubtes getan haben; der Gedanke, Gott könnte böse auf sie werden, würde sie niemals dazu bringen, auf einen verbotenen Streich zu verzichten, sie leben unmittelbarer, ehrlicher. Und ihr jungen Leute, weißt du, ihr besitzt ebenfalls diese Nonchalanceallem gegenüber, was euch umgibt, einschließlich Gott; würdet ihr vorher über die Strafe nachgrübeln, die euch erwartet, würdet ihr euch gleich in Larven zurückverwandeln. Ich glaube, deshalb mochte ich junge Menschen immer so gern, weil sie lebendig sind. In dieser Hinsicht bin ich Terry sehr ähnlich, auch sie zog sich ihre Jugendlichen heran, suchte ihre Nähe. Wir beide fühlten natürlich, dass wir durch sie noch etwas Aufschub gewinnen konnten, um in der Arena zu bleiben – du merkst, ich spreche über die jungen Leute in der dritten Person, so als gehörtest du nicht mehr zu ihrer, sondern zu meiner Welt, als wären wir Komplizen, heckten ein gemeinsames Komplott aus. Aber bei mir ist da noch etwas anderes, ich habe eine freie Denkart, vielleicht ist es nur mein

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