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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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lehne, und er kauert auf dem Stühlchen, und die Katze Dracula klebt an seinem Hosenbein, und das Wort »Harmonie« wird mit demselben Gestus ausgesprochen, mit derselben Mimik. Wann war das? Und ihre müde Stimme am späten Nachmittag, und das längliche Gesicht des Mannes im Dämmer, ein Augenblick versinkt jetzt wie ein Licht im Unterbewusstsein. Ich rede immer weniger; ich in meine Gedanken versunken, er in seine. Wir haben einen Vorwand zu schweigen, wir hören Musik. Ich weiß nicht warum, aber es fällt mir schwer, seinen Namen nicht auszusprechen. Dieses verwirrende Changieren, von einem Zustandin den anderen, ganz wie die Grüntöne seines Blickes. Mir wird von Neuem schwindlig, morgens wenn ich zum Markt gehe, abends wenn ich ins Literaturcafé gehe, ein Riesenrad, das immer mehr ins Stocken gerät, minutenlang hält es mich oben fest, dann unten. Ich habe keine Ahnung, was ich ihm erzählen soll. Meine Reise nach Holland mit den Eltern, die Pension des Herrn Erwin, ich hatte einen Teller, der mit Bärchen und Schweinchen bemalt war, ich hörte auf dem Plattenspieler Shirley-Temple-Platten. Spielplatten nannte man sie früher. So, jetzt eine Probe, sag es im Stillen, was du ihm mitteilen willst, schmücke deine Sätze aus, die Schminke auf meinen Gedanken ist wie der Stempel des Hygieneinspektors auf dem Rinderschenkel, ich habe Schlachtereien immer gemieden, sie waren wie ein böses Omen, und Großmutter besprach mich dann immer mit im Wasserglas gelöschter Kohle. Ich merke, wie sich der Tod in mir regt, ich will sprechen, will Lärm machen, will ihn vertreiben. Ich war auf dem Friedhof, bei Nino. Immer wenn ich ihn mir in Erinnerung rufen will, sehe ich ihn im Türkensitz im Sessel thronen. Von Anfang an war ich überrascht, wie natürlich es für ihn war, so zu sitzen; man lernt es als Kind oder gar nicht. Er war ja nicht in die Koranschule gegangen. Aber woher kam dann diese Angewohnheit? Wenn er Lust hatte, von seiner Herkunft zu erzählen – er kam aus einer Sephardenfamilie, die aus Spanien hergezogen war und sich vor vielen Jahrhunderten auf dem Balkan niedergelassen hatte –, erwähnte er einen Vorfahren, der Pascha von Vidin gewesen war. Wer weiß, vielleicht hatte er seine Angewohnheit, im Türkensitz zu sitzen, von ihm geerbt, und seine Trägheit auch, und die Vorliebe für Kontemplation,seine sanfte und raffinierte Sinnlichkeit. Der grüne Blick trinkt meine Worte, woher soll ich wissen, was er mit ihnen anstellt? Manchmal fühle ich Ninos Anwesenheit ganz nah, fast physisch, besonders an Orten und auf Wegen, wo wir verliebt ineinander waren. Am heftigsten überkommt mich die Erinnerung an ihn, wenn ich mit dem Bus nach Pantelimon hineinfahre, auf der Brücke beim großen See, am Hotelkomplex »Schwan«, dem ehemaligen TBC-Krankenhaus Pantelimon, einst Sitz von Dr. Gh. Marinescus Klink für Nervenkrankheiten und, ganz zu Anfang, das Handelstor während der Türkenherrschaft. Ich war achtundzwanzig Jahre alt und Patientin dieses Krankenhauses, das aussah wie ein auf einem Hügel errichteter Gutsherrenhof, es war umgeben von einem riesigen Park, der in den alten Wald rings um den See überging. Ich litt an Nieren-Tbc. Ob ich operiert werden würde, wusste ich nicht, aber damals war ich so verliebt in Nino, dass ich keine Zeit hatte, an schlimme Dinge zu denken, besonders da er der Einzige war, der sich nicht scheute, mir auch zu zeigen, wie sehr er mich liebte. Halte ich ihm nicht schon wieder einen Köder hin? Er hat sich nicht davor gefürchtet, ich könnte mir seiner Liebe zu sicher sein … Blödsinn, du kennst diese Theorien. Er wollte einfach, dass ich glücklich war. Der See lag ausgetrocknet da. An seiner Stelle erstreckte sich über fast drei Kilometer eine riesige Müllhalde, die er täglich durchquerte. Nino kam jeden Tag nach dem Abendbrot zu mir, geradewegs aus dem Tei-Viertel, wo wir wohnten, meistens zu Fuß. Denn ziemlich oft, vor allem jeweils vor der Lohnauszahlung, waren seine Taschen leer. Er war imstande, Opfer zu bringen, er nahm mit Freude Entbehrungen auf sich,wahrscheinlich war er ein bisschen masochistisch veranlagt. Ich habe dir ja gesagt, die Dichter sind … Er hatte einen zarten Körperbau, war sehr mager und blass. Ich erwartete ihn auf einer tief im Unterholz verborgenen Bank für kranke Verliebte, die dort ihrer fiebrigen, verzweifelten Leidenschaft nachgingen. Wenn Nino kam, war es bereits vollständig dunkel. Ich hörte seine Schritte, Äste knackten. Auf die

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