Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Weißt du, was Goethe gesagt hat, dass er nichts unerträglicher fände, als einen Menschen, der nie etwas zu verlieren hat. Grade er, der so schnell Mittel und Wege fand, um nicht zu leiden. Vielleicht gefällt es uns einfach nie, wie wir sind; der Feige wäre gern ein Held, der Poet ein Mathematiker, eine interessante Frau wäre gern schön, eine schöne interessant. Von uns selbst enttäuscht, beginnen wir, uns zu hassen. Vielleicht sind wir deshalb imstande, Böses zu tun – um eine andere Identität zu erlangen. Der gefährlichste Mensch ist der, der sich selbst hasst, denn die anderen können zum Opfer seiner Wut werden. Du wirst sagen, ja gut, aber was hat das mit Terry und Goethe zu tun. Aber es gibt eine Verbindung. Als ich Studentin war, hatte ich eine Kommilitonin, Helga Christel, eine Deutsche, mein Leben lang hat mich die Erinnerung an sie verfolgt, sie war das Idealbild des perfekten Mädchens. Sie kleidete sich dezent, aber geschmackvoll, sprach nur, wenn es nötig war, war korrekt bis zur Unerträglichkeit, sie berücksichtigte die moralischen Werte, konnte Hölderlin auswendig, hielt Ehebruch für eine große Sünde, hörte gewissenhaft auf ihre Eltern und Lehrer. Sie war eine hervorragende Studentin und eine hervorragende UTC-lerin. Sie widersprach niemandem, tratschte nicht; in jedem Gespräch, in dem es etwas zu verteidigen oderzu verurteilen galt, schwieg sie und ließ jeden glauben, sie sei auf seiner Seite. Ihre Art wurde von allen geschätzt; Helga war schön, war gut, war klug, war gebildet, war preisgekrönt. Nach einiger Zeit dachte ich nachts vor dem Einschlafen statt an das, was mein Geliebter mir tags zuvor gesagt hatte oder was ich ihm beim nächsten Treffen erzählen würde, an Helga als ein Wesen ohne Fehl und Tadel. Ich hielt es nicht aus. Sie drängte sich zu sehr vor, ließ mich kaum noch mich selbst sehen. Ich konnte sie nur loswerden, indem ich sie beseitigte. Ich fing an, Helga jede Nacht zu ermorden. Ich brachte sie auf alle erdenklichen Weisen um: Ich stieß sie aus der Straßenbahntür, spritzte Gift in einen Apfel, den ich ihr später bei einem Ausflug anbot; ich erwürgte sie im Aufzug; wenn wir als Letzte aus der Bibliothek kamen, versteckte ich ihr Insulin (sie litt an Diabetes); ich malte mir diesen Film bis ins kleinste Detail aus, jedes Mal fand sich ein kleiner Fehler. Ich sagte mir immer, es gibt kein perfektes Verbrechen, ich muss mir etwas anderes ausdenken. Es ist seltsam, dass mich der Mord an sich damals gar nicht schreckte. Ich fürchtete eher die Strafe. Ich glaube, Helga bewirkte, dass ich mit mir selbst nicht zufrieden war, dass ich mir eine Menge Dinge vorwarf, vielleicht hasste ich mich ihretwegen, ohne es zu wissen. Und gerade deshalb schien mir eine Lösung des Konflikts um jeden Preis legitim. Der grüne Blick bleibt stur auf meine Augen geheftet, aber er fühlt sich weiß an, fremd, eisig. Das Interesse, das wir bei anderen mit unseren Verschrobenheiten wecken, ist nicht immer vorteilhaft für uns. Ich glaube übrigens, dass Menschen, die sich selbst nichts vorzuwerfen haben, sich auch nicht hassen können. Es kann deshalb sein, dass die Selbstliebe eine ArtTugend ist. Ich brauche dir nicht zu sagen, wie viel Gutes aus Egoismus getan wird. Im Rückblick erscheint mir das alles wie ein Ausbruch später Pubertät. Ich wurde diese Fantasien schnell los. Damals ging ich zu einer neuen Therapie über, die meiner Leichtigkeit wunderbar entsprach. Ich begann so zu tun, als sei ich zufrieden mit mir. Wie uns die indische Weisheit lehrt, sagte ich mir jeden Morgen vor dem Spiegel, ich sei die Schönste, und nach und nach fing ich an, daran zu glauben. Jetzt hasse ich niemanden mehr. Die gute alte Suggestion! Ich glaube, 99 Prozent unseres Lebens sind Suggestion. Sogar die Liebe, besonders die Liebe. Sein Blick wird wieder sanft, so als würden ihre Worte sich direkt in die grünen Fluten seiner Augen ergießen und sie trüben. Wie dämlich kann ich manchmal sein mit meiner Küchenphilosophie. Beim Dichten zensiere ich mich, aber hier. Jetzt sieht er auf mein dünnes, fast schon weißes Haar über der Stirn. Wie kann er einen Blick so voller Bewunderung haben, wenn er in diesen menschlichen Lumpen wühlt, die eine Frau darstellen sollen. Und ich, die ich genau weiß, wie ich aussehe und dass ich mich wie eine Wahnsinnige an eine Einbildung klammere, ich bin ein jammernswerter Indianer, der am Strick über der Bisonherde hängt. Und doch will ich diesen Blick
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