Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
wie ich im Stande bin zu lieben? Stört es dich, wenn ich die Balkontür öffne, damit ein bisschen Luft hereinkommt? Auf Annas Hals sind wieder die roten Flecken aufgetaucht. Sie tritt hinaus auf den Balkon, fährt sich mit den Fingern durch das graue, schüttere Haar. Sie wäre gerne allein gewesen, wieder hat sie zu viel geredet. Man kann sich ja vorstellen, dass er das alles seinen Freunden erzählen wird, um sich damit brüsten. Wenn er ihnen schon nicht die Intimitäten ihres Körpers beschreiben kann, der sich unter dem langen, bis zum Hals geschlossenen Kleid verbirgt, dann gibt er ihnen wenigstens ihre charakterlichen Unzulänglichkeiten preis. Sich einem Prosaautor offenbaren ist riskant. Ach schrecklich, was für schlimme Gedanken ich habe. Nachdem er doch stundenlang seine Zeit mit mir vergeudet hat, es ist bald sieben, nachdem sein Blick mich gestreichelt hat und gepeitscht hat, nachdem er Verstecken mit mir gespielt, mich entzückt, mir Hoffnung gemacht, nachdem er meine Gedichte auswendig gelernt und mich ohne zu zögern zur größten Dichterin gekürt hat; nun presst dieses verfluchte Ding von Illusion meine Nüchternheit aus wie eine Zitrone, und ich möchte mein Gesicht verziehen wegen des sauren Geschmacks, der mich rechtzeitig zurück in die Wirklichkeit holt. Wenn du willst, komm auch auf den Balkon, dann siehst du, was man von hier für eine Aussicht hat. Die Pappel ist schon lange an meinem Stockwerk vorbeigewachsen, ich glaube, sie muss fast oben an der Terrasse angekommensein. Ich habe ein Fenster am Bett, und nachts vor dem Einschlafen kann man bei Vollmond die Pappel und den Sternenhimmel sehen, ich denke manchmal, das wird das letzte Bild auf meiner Netzhaut sein. Von hier, vom Balkon über dem Weg, ist ein frisch verheirateter junger Mann aus dem fünften Stock gefallen. Sie waren gerade erst hierher gezogen; er wäre in der darauffolgenden Woche in den Libanon gegangen. Wahrscheinlich war er Chauffeur bei einer Botschaft, du weißt, was das für welche waren, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Er stieg auf ein Stühlchen, um Wäsche zum Trocknen auf die Leine zu hängen, und stürzte über das Balkongeländer. Ich glaube, wochenlang sah ich Kerzen unter seinem Balkon brennen, und die Erde wurde an dieser Stelle gelb und glänzend wie gewachstes Parkett. Im Zentrum sieht man so etwas nicht. Lass uns ein bisschen auf dieser Truhe Platz nehmen, und geh bitte und bring mir eine Zigarette. Der Mann bringt das Päckchen Zigaretten. Inzwischen ist das Feuerzeug wieder aufgetaucht. Er zündet ihr eine an. Sie spürt einen leichten Schwindel. Eigentlich ist das eine Aussteuertruhe, auf die ich eine alte Webdecke gelegt habe. Die Motten haben sich über sie hergemacht. Meine Eltern benutzten sie, die Truhe, nicht die Decke, um mein Spielzeug hineinzutun, wenn wir von einem Land zum anderen fuhren, bei der letzten Reise waren wir in Holland. Ich weiß nicht, ob ich es dir erzählt habe, Vater war Musiker und Mutter war Ballerina, sie gingen auf Tournee in viele Länder, und mich nahmen sie mit. Ich erinnere mich an die Abende in Rotterdam, an denen ich mit Mutter durch die Gässchen rund um den Hafen ging. Die Sirenen der riesigen Schiffe zerrissen den warmen Nebel, dersich uns wie ein nasser Schleier auf die Wangen legte. Wir schritten im Takt, um uns aufzuwärmen, die Feuchtigkeit drang uns in die Knochen, und wir sangen deutsche Märsche. Noch jetzt, nach so vielen Jahren, fasziniert mich der Nebel, vielleicht ist das ein Überbleibsel von damals, oder ist es möglicherweise die unwiderstehliche Anziehungskraft, die alles Verborgene und Geheimnisvolle auf mich ausübt? Ebenfalls in Rotterdam oder Amsterdam, ich weiß nicht mehr, nahm ich zu Sankt Martin, einer Art Nikolausfest, am Kinderkarneval teil. Ich war nicht einmal sechs und verliebt in alle Jungen, die als Indianer verkleidet auf der Straße vorbeigingen, Cowboys konnte ich nicht ausstehen, ich glaube wegen der Filme, die ich gesehen hatte, oder vielleicht aus einem wer weiß woher ererbten Instinkt. Ich erinnere mich, dass meine Mutter mich in ein Luxuslokal mitnahm, in dem mein Vater spielte. Dort sah ich zum ersten Mal Konfetti und bunte Luftschlangen, dort spürte ich zum ersten Mal die Aufregung, mit der sich etwas Unbekanntes ankündigt; wie lange werde ich diese Aufregung im Angesicht der Liebe, des Schreibens, der Freiheit noch empfinden? Meine Mutter hatte mir ein hellblaues Taftkleidchen genäht, das mit Rüschen besetzt
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