Die Seele der Nacht
sie in der Brusttasche seines Kittels. Dann eilte er die schmalen Stufen im Innern des Baumes hinab.
Kapitel 3
Nazagur
Sie wanderten fünf Tage lang nach Norden. Am ersten Tag durchquerten sie den Silberwald. Hinter seinem Saum lag eine weite Ebene mit schopfartigen Pflanzen, deren fleischige Blätter voll langer Stacheln waren. Ein eisiger Wind zerrte an ihren Umhängen und trieb sie, die Köpfe eingezogen, schnell weiter. Wenn die Beine schwer wurden und die Füße zu schmerzen begannen, zog Tahâma ihre Flöte hervor und spielte, bis Müdigkeit und Erschöpfung verflogen. Immer wieder blieb Céredas stehen und sah sich aufmerksam um. Meist wanderte sein Blick dann zurück. Bewegungslos stand er da, die Augenbrauen hochgezogen, nur seine Nasenflügel blähten sich, als wittere er eine unsichtbare Gefahr. Wenn Tahâma ihn fragte, wonach er so angespannt lauschte, schüttelte er nur stumm den Kopf und ging schnellen Schrittes weiter. Braunes Gras wechselte mit felsigen und sandigen Stellen, aber allmählich wurde es wieder grüner, bis sie am dritten Abend an einen träge dahinfließenden Fluss kamen. Im Schutz des Schilfs bereiteten sie ihr Lager, um die Nacht hier zu verbringen. Tahâma hatte sich bereits in ihren Umhang gewickelt und zum Schlafen gelegt, als Céredas sich noch einmal erhob. »Wo gehst du hin?«
»Ich sehe mich nur ein wenig um«, antwortete er. »Schlaf jetzt. Wir haben einen langen Weg hinter uns und vielleicht einen noch längeren vor uns.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, stapfte er davon.
Noch war es nicht völlig dunkel. Er konnte seine Fußtritte im Sand erkennen, Tahâmas Abdrücke aber waren kaum noch zu erahnen. Wie machte sie das nur, fragte er sich ein wenig ärgerlich, war er als Jäger doch stets bemüht, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen. An ihrer zierlichen Gestalt allein konnte es nicht liegen. Céredas ging weiter ihren Weg zurück. Die Nacht senkte sich herab, und die Abendlieder der Vögel verstummten. Kein Windhauch strich durch das Tal. Bewegte sich nicht in den hohen Grasbüschen dort hinten etwas? Der Jäger duckte sich und huschte hinter einen Busch. Lautlos schlich er auf die schilfartigen Gräser zu, die ihn um mehr als eine Haupteslänge überragten. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Es war schon fast dunkel, dennoch entging ihm die Spur im lehmigen Boden nicht. Er kniete sich hin. Was für ein Wesen hatte diese Abdrücke hinterlassen? Mit dem Finger strich er über die scharfen Ränder. Die Spur war frisch. Weit vorgebeugt folgte ihr Céredas, bis er sie am Fuß eines steinigen Hügels verlor. Er lauschte noch einmal in die Nacht, ehe er zu Tahâma zurückkehrte. Beunruhigt beschloss er, bis zum Morgen Wache zu halten.
Als die Sonne das Tal in ihr warmes Licht tauchte, setzten Tahâma und Céredas ihren Weg fort. An einer breiten, flachen Stelle überquerten sie den Fluss und wanderten auf die langsam ansteigende Hügelkette zu. Sie folgten einem schmalen Bach, dessen klares Wasser sich unten im Tal mit dem braunen des Stroms vermischte, hügelan bis dorthin, wo er entsprang. Steil schlossen die nur spärlich bewachsenen Hänge die Quelle an drei Seiten ein.
Tahâma beugte sich vor, trank von dem kalten, klaren Wasser und füllte dann ihren Schlauch. Während sie ihn wieder in ihren Beutel schob, wanderte ihr Blick die steilen Wände hinauf. »Was meinst du, Céredas, sollen wir umkehren? Ein paar Wegstunden zurück, als die Hänge noch mit Bäumen bewachsen waren, schienen sie mir leichter zu erklimmen.«
Céredas zuckte mit den Schultern. »Ich sehe hier Griffe und Tritte genug. Von mir aus brauchen wir nicht zurück.« Er deutete die steile Felswand hinauf, die hinter der Quelle aufragte.
»Und die Wunde an deinem Bein?«, fragte Tahâma.
»Ist nicht einmal mehr einen Gedanken wert!«
Tahâmas Blick wanderte über die zerklüfteten Blöcke und Felsbänder, in deren Ritzen sich Grasbüschel und dunkel- grüne Ranken festkrallten. »Wenn du meinst«, sagte sie leise.
»Jetzt hab ich aber genug!«, keifte da eine Stimme hinter ihnen. Das Schilfgras zwischen den Felsblöcken teilte sich, und hervor trat ein wütend dreinschauender Erdgnom.
»Wurgluck!«, rief Tahâma. Céredas jedoch sah ihn nur düster an.
Die dürren Hände zu Fäusten geballt, kam der Gnom näher. »Ich bin durch den Wald hinter euch hergelaufen, habe die Steppe durchquert und bin durch den Fluss geschwommen, aber das«, er deutete die Felswand hinauf, »ist ja wohl
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