Die Seele der Nacht
Zunge glitt nervös vor und zurück, und nun sah das Mädchen auch den langen Schlangenkörper, der sich um den Stamm der Kletterpflanze geschlungen hatte.
»Was ist?«, rief Céredas.
Tahâma fixierte den Schlangenkopf, der immer näher kam. Sie öffnete langsam den Mund, und sanfte Töne perlten hervor. Die Schlange hielt inne. Tahâma wusste, dass das Reptil sie nicht hören konnte, doch die Schwingungen würden sie beruhigen – wenn sie Glück hatte.
Währenddessen schob sich Céredas vorsichtig auf einen überhängenden Felsen hinaus, um nachzusehen, was dort unten mit Tahâma vor sich ging. Hinter ihm in seinem Bündel stöhnte Wurgluck. »Ich kann das nicht sehen, ich kann das nicht sehen«, jammerte er.
»Dann mach die Augen zu!«, fauchte Céredas. Angestrengt blickte er in die Tiefe, aber es dauerte eine Weile, ehe er die Schatten in der Spalte zu deuten wusste. Eine graue Felsschlange! Schon der kleinste Stich ihrer Giftzähne würde genügen, um Tahâma innerhalb weniger Augenblicke zu töten. Céredas riss den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil an. Langsam beugte er sich über den Abgrund.
»Was machst du da?«, kreischte der Erdgnom, aber der Jäger antwortete nicht. Sein Atem war nun ganz ruhig. Langsam zog er die Sehne zurück, kniff ein Auge zu und fixierte den Schlangenkopf tief unter sich, der kaum mehr eine Handbreit von Tahâmas Gesicht entfernt war. Würde die Schlange noch zubeißen können, wenn er sie tödlich traf? Der Pfeil musste so durch ihren Kopf fahren, dass sie das Maul nicht mehr öffnen konnte! Céredas hielt die Luft an, doch da bewegte sich die Schlange plötzlich wieder. Der schimmernde Leib rutschte über den Pflanzenstrang, der Kopf schoss nach vorn. Sie glitt über Tahâmas Schulter, ringelte sich an ihrem Rücken hinab und verschwand unter einem zerklüfteten Steinblock.
Céredas ließ den Bogen sinken. Zwei Schweißperlen rannen an seinen Schläfen herab und tropften auf seine Schuhe. »Tahâma, komm weiter, ganz langsam!«, rief er und musste sich zusammennehmen, damit seine Stimme nicht zitterte.
Sie sah zu ihm hinauf. Ihre Miene war verschlossen, er konnte nicht einmal erahnen, was in ihr vorging. Langsam und gleichmäßig bewegten sich ihre Hände und Füße. Als sie näher kam, wirkte sie besonnen wie immer. Bewundernd sah er sie an. Aus dem, was er an Erzählungen über die Blauschöpfe gehört hatte, waren sie ihm verwöhnt und verweichlicht erschienen, nur an wertloser Musik und Kunst interessiert, aber nicht in der Lage, einen Bogen zu spannen und gegen einen grauen Bären anzutreten. Wenn sie jedoch wie dieses Mädchen waren, dann wohnten Tugenden in ihnen, die auch die Jäger schätzten: Mut und Besonnenheit, Selbstbeherrschung und ein eiserner Wille.
Oben an der Felskante angekommen, setzte Céredas sein Bündel ab, damit Wurgluck herausklettern konnte. Der Erdgnom war äußerst schlechter Laune. Ihm war übel von der Schaukelei und dem Blick hinab in die Tiefe, und es regte ihn auf, dass er nicht zur Stelle gewesen wäre, wenn die Schlange zugebissen hätte. Vermutlich hätte er nichts ausrichten können, selbst wenn er daneben gestanden hätte, aber diesen Gedanken schob er schnell von sich fort. Er beschloss, den beiden nicht mehr von der Seite zu weichen. Man konnte ja nie wissen, in welche Gefahren sie sich durch ihren jugendlichen Leichtsinn brachten.
Nachdem auch Tahâma die Felskante erreicht und sie eine Weile gerastet hatten, zogen sie zu dritt weiter. Mit zusammengekniffenen Lippen trippelte Wurgluck hinter Tahâma und Céredas her, die dreimal so große Schritte machten wie er. Aber der Gnom war zäh, und so blieb er auf ihren Fersen, bis es zu dämmern begann und sie am Rand einer tiefen Schlucht anhielten.
»Das muss der Durunban sein«, sagte Tahâma und deutete auf das schäumende Wasser, das sich tief unter ihnen auf der Sohle der Schlucht talwärts wälzte. »Er bildet die südliche Grenze von Nazagur – so haben es jedenfalls die Reisenden berichtet.«
Céredas trat an den Felsabbruch heran und sah die senkrechten Wände hinunter. Der Stein war zerklüftet und schien brüchig. »Das wird nicht einfach«, murmelte er.
Tahâma hob die Hände. »Wir werden nicht wieder klettern müssen! Wenn wir nicht vom Weg abgekommen sind, müssten wir ein oder zwei Stunden ostwärts auf einen Pfad treffen, der uns hinunter zum Fluss führt und auf der anderen Seite wieder hinaufbringt.«
Die Nacht brach nun rasch herein. Ein kalter
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