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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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ich kein Stück der Musiksammlung entdecken.«
    Sie durchsuchten noch drei weitere Häuser. Die wirkten ebenfalls, als seien sie plötzlich verlassen worden und als könnten ihre Besitzer jeden Augenblick zurückkehren. Dann jedoch machten sie in einer dunklen Küchennische den Fund, vor dem sie sich alle drei gefürchtet hatten: zwei ausgemergelte Leichen, ein Mann und ein Kind. Noch im Tod aneinander geklammert, kauerten sie vor dem kalten Kamin.
    »Geh bitte in den Schuppen, in den wir vorhin hineingesehen haben, und hol eines der großen Bretter«, sagte Wurgluck zu Céredas.
    »Warum das?«
    »Damit ihr die Toten hinaustragen könnt!«
    Céredas murrte. »Wozu soll das gut sein? Wir müssen ja nicht gerade in diesem Haus die Nacht verbringen.«
    Er wollte weg von hier, statt noch einmal in die schreckverzerrten Gesichter zu sehen. Vor dem Sterben hatte er keine Angst, aber in seiner Heimat wusste er zumindest immer, in welchen Gestalten der Tod auf ihn zukam. Es waren Raubtiere oder Schlangen, steile Felsen, von denen man stürzen konnte, oder reißende Bäche, in denen manch ein Jäger ertrunken war. Dieses namenlose Grauen aber machte ihn unruhig.
    Er sah Tahâma nach, die in den Schuppen ging, um das Brett zu holen. Auch das Mädchen kam ihm seltsam vor. Was hatte es mit ihren Visionen auf sich? Mit den Dingen, die sie sehen und fühlen konnte, er aber nicht, obwohl er neben ihr stand? Und dann ihre Musik. Manches Mal war sie tröstend, vertrieb die Müdigkeit oder düstere Träume, dann wieder schmerzten die Töne fast unerträglich in seinem Kopf.
    Das Brett war viel zu lang und schwer für Tahâma, also musste Céredas ihr doch noch helfen. Die Lippen noch immer unwillig aufeinander gepresst, hob er den Toten auf das Brett. Der Mann schien nur noch eine leere Hülle zu sein, so leicht war er. Zusammen mit Tahâma trug der Jäger das Brett mit der leblosen Fracht auf die Tür zu, durch die das Licht der Abendsonne flutete.
    Wurgluck stand neben der Schwelle. Ohne auch nur einmal zu blinzeln, starrte er den Toten an. »Halt!«, rief er plötzlich.
    Überrascht blieben die beiden stehen. Céredas stand schon draußen im Licht, Tahâma noch vor der Schwelle. Die Sonnenstrahlen schienen auf Gesicht und Brust des Toten. Ceredas wollte den Erdgnom eben fragen, warum sie nicht weitergehen sollten, als sich ein wirbelnder Wind erhob. Er kam nicht von draußen herein, sondern schien hier auf der Schwelle zu entstehen. Nicht ein Ton kam aus der Kehle des Jägers. Der tote Körper auf dem Brett schien zu zerfließen, die Konturen lösten sich auf. Tahâma stieß einen spitzen Schrei aus und ließ das Brett fallen. Die Beine des Toten rutschten zu Boden. Mehr war von ihm nicht übrig geblieben, bis auf eine Hand voll Staub, der auf die Schwelle hinabrieselte.
    Der Gnom nickte grimmig, griff nach einem der dünnen Leichenbeine und zog es ins Licht. Auch das Bein zerfiel, sobald die Strahlen der Sonne es erfassten.
    Nun ließ auch Céredas das Brett los, trat einen Schritt zurück und schlang die Arme um seinen Leib. Ihn fröstelte. Die Furcht, die er nicht mehr unterdrücken konnte, machte ihn wütend. Er warf Tahâma einen misstrauischen Blick zu. »Leere Gräber, leere Särge«, rief er. »Sag uns endlich, was hier vor sich geht! Sag uns, gegen welche Gefahr wir antreten müssen! Warum hast du uns nicht gewarnt? Warum lässt du uns blind in den Tod tappen? Sag uns, warum!«
    Das Mädchen hob abwehrend die Hände. »Ich führe niemanden! Ich bin in dieses Land gekommen, um mein Volk zu suchen. Es war dein eigener Wille, mich zu begleiten, und auch Wurgluck ist ohne mein Drängen mitgekommen. Damit will ich nicht sagen, dass ich nicht sehr froh bin, euch hier an meiner Seite zu wissen, denn auch ich weiß nicht, was uns erwartet. Ich habe euch gesagt, was ich gefühlt und gesehen habe. Aber auch jetzt weiß ich weder mit wem oder was wir es zu tun bekommen werden noch was hier geschieht. Wie kannst du mir unterstellen, euch in eine Falle locken zu wollen!«
    Céredas erwiderte ihren Blick. Die mandelförmigen Augen des Mädchens waren nun tiefschwarz und voller Schmerz. Ihr Gewand hatte die Farbe von schimmernden Tränen angenommen. Das lange Haar verdunkelte sich. »Ich habe nichts von einer Falle gesagt«, murmelte er und senkte verlegen die Lider. »Verzeih mir.«
    Wurgluck schob unauffällig das zweite Bein des Toten über die Schwelle, dann trat er hinaus in den Vorgarten. »Wir sollten uns einen Platz für die

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