Die Seele der Nacht
Nacht suchen. Die Sonne steht kaum mehr eine Handbreit über den Wiesen.«
Zu dritt stiegen sie den steinernen Turm hinauf und ließen den Blick über das nun rötlich gefärbte Land schweifen, das sich so trügerisch friedlich nach allen Richtungen ausbreitete. Dann kehrten sie auf den Erdboden zurück und betraten das große Haus am Marktbrunnen. Sie beschlossen, hier in einer der Schlafkammern unter dem Dach die Nacht zu verbringen. Im Dämmerlicht saßen sie um den Küchenofen und verzehrten ihr Mahl, ehe sie sich in der Kammer einschlossen und auf den beiden Betten zur Ruhe legten. Wurgluck kroch in einen Korb, in dem ein paar weiche Tücher lagen. Tahâma schloss die Augen und suchte nach Zeichen des Schreckens in ihrem Innern, aber die Schatten schienen in weit entfernten Gegenden zu weilen. Ruhig schlief sie ein.
Während der rote Mond über den Himmel zog, gefolgt von der Sichel des silbernen, erfüllten nur die Geräusche friedlichen Schlafs die kleine Kammer. Kurz vor Mitternacht aber schreckte Céredas auf und griff nach seiner Axt. Leise erhob er sich und trat an das zweite Bett. Obwohl es in der Kammer völlig dunkel war, schimmerte Tahâmas weißes Gesicht, als leuchte es von innen. Der Jäger beugte sich etwas tiefer, so dass er ihren Atem auf seiner Wange spüren konnte. So betrachtete er sie einige Augenblicke, dann ging er zu dem Korb hinüber, aus dem Wurglucks leises Schnarchen erklang. Er konnte nur einen zusammengeringelten, dunklen Fleck zwischen den weißen Tüchern erkennen. Auch der Erdgnom schien in tiefem Schlaf zu liegen. Lautlos huschte Céredas zur Tür, schob die Truhe, die ihm den Weg versperrte, ein Stück beiseite und schlüpfte hinaus. Er stieg die mondüberflutete Treppe hinunter, durchquerte die Halle und öffnete die schwere Eingangstür.
Die Blumen und Gräser des Gartens glänzten wie mit Kupfer überzogen. Der Kies knirschte unter seinen Schritten, als er den Weg zum Marktplatz entlangging. Aus einem grob behauenen Steinkopf rauschte das Brunnenwasser in das runde Becken, das an seiner breitesten Stelle fünf Schritte maß. Der rote Mond spiegelte sich im Wasser, die silberne Sichel war bereits hinter den Giebeln versunken.
»Wenn Rubus so hell am Himmel steht, dann wird Blut vergossen«, murmelte der Jäger. Hatten das die Alten seiner Sippe nicht oft erlebt? Der rote Mond war ein Vorbote des Bösen! Die dunklen Wesen badeten gern in seinem Licht. Von einem plötzlichen Schmerz durchzuckt, beugte er sich über den Brunnenrand, um sein Gesicht zu kühlen.
Im Wasserspiegel sah er Wolkenfetzen über den Himmel ziehen. Der Mond verdunkelte sich. Mühsam unterdrückte er ein Stöhnen. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Noch immer verdeckte eine Wolke den Mond, aber als sie die Sichel wieder freigab, war die Gestalt des Jägers nicht die einzige, die sich im glatten Wasser spiegelte.
Tahâma schreckte hoch. Sie fühlte wieder den Schatten über sich. Schnell glitt sie aus ihrem Bett. Auch Wurglucks Schnarchen verstummte, und der Kopf des Erdgnoms erschien über dem Korbrand. Leise knarrend öffnete sich die Kammertür einen Spalt und schlug dann mit einem Knall wieder zu. Die beiden fuhren zusammen. Das Mädchen hob den Kristallstab, doch bevor ihr Blick die Kammer vollständig durchwandert hatte, wusste Tahâma, dass Céredas nicht mehr hier war.
Mit Krísodul in der Hand hastete sie zum Fenster und zog mit fahrigen Bewegungen den Laden auf. Unter ihr lag der nächtliche Vorgarten mit seinen erstarrten Blumen, hinter dem weiß gestrichenen Holzzaun begann der große Platz. Dort am Brunnen bewegte sich etwas. Tahâma konzentrierte sich, um ihren Blick zu klären. Leise stöhnte sie auf, als ihr bewusst wurde, was sie dort unten sah. Sie wandte sich um, eilte zur Tür und rannte die Treppe hinunter. Den Stab fest umklammert, stürzte sie den Kiesweg entlang auf den Brunnen zu.
Céredas hob den Kopf und starrte sie an. Noch im Laufen hob Tahâma ihren Stab und stieß eine Folge abgehackter Töne aus. Krísodul flammte auf und verjagte die Nacht vom Platz am Brunnen. Einen Moment waren die lumpenverhüllten Gestalten, die Céredas dicht umdrängten, in gleißendes Licht getaucht. Tahâma erhaschte einen Blick auf knochige Finger und eingefallene Schädel, von dunklen Kapuzen verhüllt. Rote Augen glühten ihr entgegen, dann jedoch flohen die Geschöpfe der Nacht, so schnell, dass sie ihnen nicht mit den Augen folgen konnte.
»Danke«, sagte Céredas, aber es
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