Die Seele der Nacht
überfüllten Stadt ein Wohnrecht zu haben? Sie dachte an Aylana, ihre kleine Hütte auf dem Hügel. So würde auch sie leben wollen, in den Armen der Bäume, umgeben von Himmel und Gras. Warum mussten sich die Leute in dieser qualvollen Enge vor dem Schattenlord verstecken, und Aylana lebte dort draußen allein und ohne Schutz? Es konnte kein Zufall sein, dass die Schatten nicht in ihre Hütte eindrangen. Also musste es noch ein anderes Mittel gegen den Schattenlord geben als das blaue Feuer.
»Hier ist das Gästehaus, und dort hinten führt ein Weg in den Zwinger, wo eure Pferde stehen«, sagte der Junge, nickte ihnen noch einmal zu und verschwand in der Menge.
Vor dem Gästehaus standen einige Bänke und Tische, so dass nur ein schmaler Durchgang für Passanten blieb, obwohl sich die Gasse hier zu einem kleinen Platz weitete. Die Bänke waren dicht besetzt, Bierkrüge standen auf roh zusammengezimmerten Tischen.
Durch eine schmale Tür betraten die drei Gefährten das Haus. Der untere Teil wurde von einer weiträumigen Diele eingenommen, in der Säcke und Kisten lagerten. Rechts führte eine Tür zu den Kammern der Wirtsfamilie, links lag die Küche. Über eine knarrende Holztreppe kamen die Freunde in den oberen Stock. Er bestand aus einem einzigen Raum mit fünf langen Tischen und Holzbänken, die unglaublich vielen Gästen Platz bieten konnten.
Eine kleine, breit gebaute Frau mit ergrautem Haar nahm ihnen drei der Holzplättchen ab und notierte ihre Namen auf einer Tafel, auf der schon mehr als vier Dutzend andere standen. Mehrmals sah sie auf und starrte Tahâma an, wandte sich dann aber rasch wieder ab. Schließlich führte sie ihre Gäste über eine schmale Stiege unters Dach hinauf. Auch der Dachboden bestand aus einem einzigen Raum. Statt Tischen waren hier schmale Betten aufgebaut, immer drei übereinander, das Fußende des einen mit dem Kopfende des nächsten fest verbunden.
Die Wirtin ging ihnen bis zur hinteren Wand voraus und deutete auf die drei Kojen, die für die Neuankömmlinge bestimmt waren. »Ihr seid bei der ersten Essensschicht, heute schon eine Stunde vor Sonnenuntergang. Die Gäste, die die Betten vorn zur Straße raus haben, essen eine halbe Stunde später, dann muss der Saal geräumt werden. Heute wird hier eine Hochzeit gefeiert.« Mit diesen Worten ließ die Wirtin sie allein.
Die Freunde hatten kaum Zeit, ihre Bündel auf die Betten zu legen, da hörten sie, wie unten die Gäste in den Speisesaal strömten. Eilig stiegen sie die Leiter hinunter und setzten sich an den Rand eines der langen Tische. Die Wirtin und ihre beiden Söhne gingen mit großen Kesseln von Platz zu Platz und füllten die Schalen mit dicker Suppe. Dann verteilten sie dunkles Brot aus großen Weidenkörben. Zu trinken gab es einen warmen Kräutersud, der recht bitter schmeckte.
Die drei Freunde leerten schnell ihre Schalen – Céredas schlang auch noch die Reste herunter, die Tahâma übrig gelassen hatte –, dann verließen sie das Gästehaus, um sich noch ein wenig in der Stadt umzusehen. Wurgluck konnte gar nicht erwarten, dass es endlich dämmerte und das magische Feuer entzündet würde.
Der Strom der Bürger, der auch am Abend nicht nachließ, trieb sie zu einer breiten Straße. Dort waren Karren und Fuhrwerke so ineinander verkeilt, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie die Fuhrmänner das Durcheinander jemals wieder entwirren sollten. Zu ihrer Verwunderung hantierten jedoch alle ruhig und besonnen und kamen langsam, aber stetig voran. Die Straße führte leicht bergan zu einem Platz, der bis an die aufragende Felsklippe heranreichte. Zu beiden Seiten, am Fuß der Felsen, waren zwei Brunnen eingefasst. Die Statue eines riesenhaften Mannes überragte die halbrunden Wasserbecken. Er schien alt, obwohl das Gesicht keine Falten zeigte, sein langes Haar hing ihm über den Rücken. In der Rechten hielt er einen Kristallstab, aus dem Flammen züngelten.
Tahâma ließ ihren Blick zu dem steinernen Gesicht emporwandern, das fünf Schritte über ihr schwebte. Ihr war, als höre ihr Herz auf zu schlagen. Etwas schnürte ihr die Brust zu. Wer war dieser Mann, den die Künstler dort in Stein gemeißelt hatten? Ein Nazagur konnte es nicht sein! Diese vertrauten Gesichtszüge, die schmalen, spitzen Ohren ...
»Was ist?«, fragte der Erdgnom, aber Tahâma schüttelte nur den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Gebäude am anderen Ende des Platzes zu. Zwischen den Brunnen erhob sich ein prächtiger
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