Die Seele der Nacht
schlichen noch immer die Schatten zweibeiniger Gestalten und zottiger Wesen um den Hügel, aber sie waren verstummt. Der Lord und seine Wölfe waren nirgends zu sehen. Céredas ging zurück und betrachtete das Gesicht der schlafenden Tahâma. Es war so schmal und zerbrechlich. Die Haut schimmerte im Mondlicht wie weißes Porzellan. Er ließ sich auf die Knie sinken und streckte eine Hand aus, seine Finger näherten sich dem von blauen Flechten umrahmten Gesicht, wie angezogen von einer fremden Macht. Schon konnte er ihre Wärme fühlen, als er innehielt. Seine Hände zitterten. Was wäre, wenn sie erwachte? Rasch zog er seine Hand zurück und erhob sich. Ohne noch einen Blick auf das Mädchen zu werfen, huschte er zur Tür, öffnete sie einen Spalt und glitt hinaus.
Kapitel 7
Das blaue Feuer
In der Morgendämmerung waren die Freunde schon auf den Beinen. Sie löffelten rasch eine Schale kaltes Mus und eilten dann in den Stall. Die ersten Sonnenstrahlen streiften den Hügel und sprenkelten das Fell der Schimmelstute mit flüssigem Silber.
Tahâma schwang sich auf den Rücken ihres Pferdes, ihr Blick aber strich bewundernd über das Silberfell. »Ich habe nie zuvor so ein herrliches Pferd gesehen«, sagte sie. »So hochgewachsen und schlank, und dann dieses Fell!«
Aylana trabte neben ihr den Hügel hinunter. Zärtlich klopfte sie den Hals ihrer Stute. »Ja, Glyowind ist etwas ganz Besonderes. Sie besitzt alle guten Eigenschaften eines Einhorns. Trotz ihres schlanken Körperbaus ist sie sehr stark und schnell, und sie wittert die Gefahr, lange bevor man selbst sie spürt. Und nicht nur das, sie fühlt auch meine Wünsche. Und doch ist sie wie ein Pferd bereit, einen Reiter auf ihrem Rücken zu tragen.«
Sie ritten zu der Stelle zurück, an der Tahâma Wurgluck verloren hatte. Céredas folgte ihnen in einigem Abstand. Er war heute noch schweigsamer als an den Tagen zuvor, aber sein Blick folgte unablässig dem Blauschopfmädchen.
Unter dem grünen Wasserfall der herabhängenden Weidenzweige ließ sich Tahâma vom Pferd gleiten. Ratlos sah sie sich um. »Wo sollen wir nur mit unserer Suche beginnen?«, fragte sie.
»Es wäre ein guter Anfang, wenn du nicht alle Spuren zertrampeln würdest«, brummte Céredas. Tahâma fuhr zurück und sah ihn aus großen Augen an. »Vielleicht kann ich aus den Spuren lesen, was mit Wurgluck passiert ist«, fügte er in freundlicherem Ton hinzu. »Bitte, tretet zurück und wartet dort drüben.«
Die beiden Frauen führten die Pferde ein Stück abseits und schlangen die Zügel um einen niedrigen Ast. Nur Glyowind durfte frei grasen.
»Sie mag es nicht, wenn ich sie anbinde«, erklärte Aylana. »Zu viel Einhornblut in ihren Adern.«
Sie setzten sich zwischen die Wurzeln einer alten Weide. Tahâma beobachtete Céredas, der, die Nase fast auf dem Boden, vergeblich nach den Spuren des Erdgnoms suchte.
Mit ernster Miene kam er endlich zu den Frauen hinüber und schüttelte den Kopf. »Nichts, keine Spur...«Er stutzte, auf seinem Gesicht zeichnete sich erst Überraschung und dann Wut ab. »Wurgluck!«, rief er und hob die Hand.
Die beiden Frauen fuhren herum. Da saß der Gnom, kaum zwei Schritte hinter ihnen auf einer Wurzel, die Beine lässig übereinander geschlagen.
Zornig stürzte Céredas heran und griff den Erdgnom unsanft an der Schulter. »Wir suchen dich und machen uns Sorgen, und du spielst Verstecken!«
Wurgluck schob die Hand von seiner Schulter, erhob sich und klopfte sich den Kittel aus. »Ich freue mich auch, euch wiederzusehen, und bin von so viel Sorge um mein Wohl beeindruckt. Es erfreut mein Herz, dich so erleichtert und glücklich zu sehen, lieber Céredas«, sagte der Gnom liebenswürdig.
»Ich bin erleichtert und glücklich!«, schnaubte der Jäger, doch dann teilten sich seine Lippen zu einem warmen Lächeln. »Sehr erleichtert und sehr glücklich sogar!«
Tahâma ließ sich vor Wurgluck auf die Knie fallen und umarmte ihn herzlich.
»Aufhören«, kreischte er, »du brichst mir sämtliche Rippen!« Verstohlen wischte er sich einen Tropfen aus dem Augenwinkel.
»Wie hast du diesen Sturz überstanden? Wie konntest du ihnen entkommen?«, fragte das Mädchen und musterte ihn aufmerksam, ob auch alles an ihm heil geblieben war.
Wurgluck ließ sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden sinken und setzte eine wichtige Miene auf. »Gern berichte ich euch von meinem Abenteuer, aber wollt ihr mir nicht erst eure schöne Begleiterin vorstellen?«
Aylana
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