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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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selten gestatte der große Weise einen längeren Aufenthalt; sich für immer hier niederzulassen sei Fremden nahezu unmöglich. Wieder huschte sein Blick zu Tahâma hinüber, als sie jedoch zu ihm aufsah, wandte er sich rasch wieder dem fremden Jäger zu.
    »Nicht wenige Familien mussten ihre ältesten Kinder zu Verwandten schicken, wenn sie gegen das Gesetz verstießen und mehr als zwei Kinder bekamen. Nur der Tod schafft Raum für neues Leben«, sagte der Wächter und verbeugte sich abschließend, um sich einem Bauern zuzuwenden, der mit seinem Karren von den Feldern zurückkam.
    Die drei Freunde gingen auf das innere Tor zu.
    »Welche Grausamkeit, den Eltern ihre Kinder zu entreißen«, ereiferte sich Tahâma, »da sie doch an jedem anderen Ort den Schergen des Schattenlords in die Hände fallen können.«
    Céredas zuckte mit den Schultern. »Der große Weise wird schon seine Gründe haben. Du hast ja gehört, dass Krizha jetzt schon überfüllt ist.« Er hielt an und drehte sich nach dem Erdgnom um, der am Wegrand stand und den Grasring zwischen den beiden Mauern musterte. »Wurgluck? Kommst du?«
    Erst beim zweiten Ruf sah der Erdgnom auf und hastete heran. »Ich habe versucht zu ergründen, wie das blaue Feuer entsteht, doch es ist nichts zu sehen. In der inneren Mauer sind immer wieder Nischen ausgespart, in denen mit Saiten bespannte Holzrahmen stehen, und im Abstand von zwanzig Schritten sind an beiden Mauerseiten runde Spiegel befestigt. Ich kann leider nicht erkennen, was es mit dieser geheimnisvollen Schutzvorrichtung auf sich hat.«
    Sie passierten das innere Tor und blieben auf dem kleinen Platz davor stehen. Zum ersten Mal bekamen sie ein Gefühl dafür, warum der Herrscher der Stadt so harte Gesetze erlassen hatte. Der Platz war überfüllt, und aus zahlreichen Gassen, die aus allen Richtungen herbeiführten, quollen weitere Bürger hervor. Sie wogten über den Platz, schoben sich umeinander und aneinander vorbei. Jeder schien zu wissen, wohin er wollte. Sie bewegten sich ruhig weiter, ohne zu hasten und zu drängen, aber auch ohne innezuhalten.
    »Geht weiter!«, sagte eine barsche Stimme hinter ihnen. »Es ist verboten, auf dem Torplatz anzuhalten. Dafür gibt es die oberen Arkaden.«
    Ein Mann mit einem Rock in den Farben der Stadt musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Ihr seid fremd hier«, stellte er fest. »Habt ihr euch schon im Gästehaus gemeldet?« Die drei schüttelten die Köpfe. »Dann wird es Zeit. Bis Sonnenuntergang muss jeder in der Stadt über eine Schlafgelegenheit verfügen.« Er hielt einen Jungen an, der sich an ihm vorbeidrücken wollte. »Bring die Fremden zum Gästehaus«, befahl er.
    Ihr kleiner Führer hatte bisher vielleicht acht oder neun Sommer erlebt, war aber schon fast so groß wie Tahâma und zeigte bereits den Ansatz der breiten Schultern und des kantigen Schädels, die den Leuten hier zu Eigen waren. Er starrte das Mädchen einige Augenblicke mit offenem Mund an, dann wandte er sich ab. Schwatzend bahnte er sich einen Weg und führte die Freunde durch ein Gewirr von düsteren Gassen ins Südviertel, dorthin, wo die Stadtmauer in die Felswand überging. Die Worte und Satzfetzen unzähliger Passanten rauschten an Tahâmas Ohren vorbei. Staunen mischte sich mit Entsetzen. Sie schritt durch die dunklen Gassen und sog die Bilder in sich ein, unfähig zu begreifen, was sie sah.
    Die Häuser strebten alle wie Türme in den Himmel, mit spitzen Giebeln, die Wände in jedem Stockwerk noch ein Stück weiter auf die Gasse vorkragend, so dass nur noch ein winziger Streifen Blau hoch über ihnen sichtbar blieb. Wäscheleinen spannten sich von einem vergitterten Fenster zum nächsten, bis sie in einer endlosen Girlande an einer Kreuzung anlangten. Die Häuser waren kaum vier Schritte breit. Eine Tür reihte sich an die andere, und überall hörte man Wortwechsel und Geschrei. Bald summte es in Tahâmas Kopf wie in einem Bienenhaus, und es war ihr, als würden die Wände sie erdrücken, als könnte sie keine Luft mehr bekommen. Noch schlimmer waren die Gerüche, die sie einhüllten. In einer Gasse roch es nach Zwiebeln und Kohl, nach nasser Wäsche und Lauge, dann wieder nach Schweiß und Holzkohle, nach Fäulnis und Dung. Für einen Moment umhüllte sie der Duft von frischem Brot, dann zog eine Wolke verbrannten Fetts über sie hinweg.
    »Hier also leben die Glückseligen«, murmelte sie vor sich hin und schüttelte fassungslos den Kopf. War es Segen oder Fluch, in dieser

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