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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Lippen zusammen. »Ich glaube nicht, dass sie bei ihm etwas erreichen kann.«
    »Warum sollte der Weise auf einer Anklage bestehen, wenn du nichts Unrechtes getan hast? Was hätte er davon?«
    »Vielleicht braucht er einen Sündenbock, der sein Volk beruhigt und von seinen eigenen Machenschaften ablenkt.«
    Wurgluck sah ihn skeptisch an. »Warst du draußen im Graben bei den Spiegeln?«
    »Allerdings, und ich habe gesehen, was der Weise dort getrieben hat. Aber ich sehe dir an, dass du mir misstraust, deshalb werde ich nicht weiter davon sprechen.« Er schürzte die Lippen. »Entweder ihr glaubt an mich, oder ihr lasst es sein und seht zu, wie ich hier zugrunde gehe.«
    Der Gnom hielt es für ratsam, das Thema zu wechseln. »Céredas«, sagte er, »komm bitte mal ein wenig näher, damit ich mir dein Bein ansehen kann.«
    »Wozu?«, fauchte der Jäger. Er wollte noch etwas hinzufügen, verstummte dann aber und sah hektisch nach draußen. »Da kommt jemand. Schnell, versteck dich!«
    Nun konnte auch Wurgluck Schritte und Stimmen hören, die sich ihnen näherten. Hastig sah er sich um, aber wo hätte er sich in diesem Gang verstecken sollen? Es gab nichts als glatten Stein auf der einen und die Gitterzellen auf der anderen Seite. Die Stimmen wurden lauter. Fußtritte hallten zwischen den Wänden. Der Schein einer Fackel kroch heran. Wurgluck eilte an der Gitterreihe entlang. Da, eine der Zellen war unverschlossen. Er schob die Tür auf, glitt hinein und kroch unter einen Haufen altes Stroh im dunkelsten Eck der Zelle. Nur wenige Augenblicke später waren die Wächter da. Sie blieben kurz vor Céredas’ Zelle stehen, gingen dann aber weiter, der Lichtschein verschwand, die Stimmen verklangen.
    Wurgluck wollte gerade sein Versteck verlassen, da kehrten die Wächter schon wieder zurück. Nun führten sie eine ausgezehrte Frau in ihrer Mitte. Obwohl sie noch jung schien, war das lange Haar fast grau, ihr Gesicht mit Schmutz bedeckt. Aber sie schritt aufrecht zwischen den Wächtern daher, und in ihren dunklen Augen spiegelte sich das Rot des Feuers.
    Als sie Wurglucks Zelle passierten, knarrte die Tür leise im Luftzug. Ohne hineinzusehen, griff der Wächter im Vorbeigehen nach dem Gitter und zog es zu. Das Schloss rastete ein. Erst als sie verschwunden und alle Geräusche verstummt waren, wagte der Erdgnom sich wieder zu rühren. Er wusste es schon, bevor er das Gitter erreichte: Die Tür war verschlossen. Ein gedämpfter Fluch entschlüpfte seinen Lippen, aber alles Rütteln half nichts.
    »Wurgluck?«, erklang die Stimme des Jägers.
    »Ich bin eingeschlossen«, schimpfte der Erdgnom.
    Céredas stöhnte. »Ein großartiger Befreiungsversuch!«, schimpfte er.
    Aber sein Zetern verstummte, als auf einmal Wurgluck breit grinsend vor seiner Gittertür stand. »Tja, die Stäbe waren wohl nicht dazu gedacht, einen Gnom aufzuhalten. Viel zu breite Abstände!«
    Es wurde Zeit, Abschied zu nehmen. Flink huschte der Erdgnom zurück zur Treppe und machte sich auf den beschwerlichen Weg die vielen hohen Stufen hinauf. Außer Atem und mit schmerzenden Beinen kam er oben an. Aber ihm blieb keine Zeit, sich ein wenig auszuruhen, denn schon kroch der graue Morgen durch die Fenster. So schnell er konnte, lief er die Gänge entlang und schlüpfte durch die Rückwand des Kamins in das Gemach, in dem er Tahâma zurückgelassen hatte.
     
    Céredas sah dem Erdgnom nach, bis er verschwunden war. Würde er ihn je wiedersehen? Und Tahâma? Das Mädchen stand ihm so deutlich vor Augen, als wäre sie hier bei ihm, um seinen finsteren Kerker für ihn zu erhellen.
    Er ließ sich zurück auf den Boden sinken. Die Beine verschränkt, lehnte er sich mit dem Rücken wieder an die kalte, feuchte Wand. Ein Lied kam ihm in den Sinn, das Tahâma einige Male auf ihrer Flöte gespielt hatte. Er versuchte die Melodie zu summen, doch kein Ton kam aus seinem Mund. Céredas presste die Lippen aufeinander und starrte vor sich hin.
    Tahâma war so seltsam, so anders als die Frauen und Mädchen, die er kannte. Nicht nur das blaue Haar und die weiße Haut, die langen, feingliedrigen Hände und die singende Stimme. Selbst wenn sie nebeneinander standen und dasselbe Bild betrachteten, kam es ihm vor, als könne sie eine andere Welt sehen als er selbst, schärfer und eine Schicht tiefer, während er nur die Oberfläche wahrnahm. Sosehr er sich auch gegen ihr fremdes Wesen gewehrt hatte, der Widerstand war in sich zusammengefallen wie ein ausgeglühtes Lagerfeuer. Jeder

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