Die Seele der Nacht
die Tür zu, sobald der Gnom sie passiert hatte, und blockierte sie mit einer der Hellebarden, die in einem Ständer auf dem Treppenabsatz lehnten.
»Wachen, haltet sie auf und bringt sie zurück!«
Bis die beiden Männer die Tür geöffnet hatten, waren Tahâma und der Gnom schon im unteren Stockwerk angelangt und liefen durch das offene Tor hinaus. Sie überquerten den Platz und tauchten im Gewirr der überfüllten Gassen unter. Erst jetzt erschienen die ersten Männer in der Tür, um nach den Flüchtenden Ausschau zu halten.
»Schnell, lauf zum Stadttor«, keuchte Tahâma. »Ich hole unser Gepäck. Wir treffen uns bei den Pferden!«
Als sie mit den drei Bündeln am Tor anlangte, hielt Wurgluck schon die Pferde am Zügel. Tahâma hob ihn auf die Stute, schwang sich hinterher, griff nach dem Riemen des Hengstes und jagte davon, ehe ein Wächter auf die Idee kam, sie aufzuhalten.
Sie ritt über die Brücke und wandte sich dann nach links. Wen sollte sie um Hilfe bitten, wenn nicht Aylana? Kurz nach Mittag erklommen die Pferde den Hügel. Die silberne Stute graste unter einem Baum. Freudig schnaubend begrüßte sie die beiden ungleichen Freunde. Aylana war nicht zu Hause, aber noch ehe der Nachmittag verstrichen war, kam sie mit einem Korb voller Pilze und Beeren aus dem Wald.
Schweigend lauschte sie Tahâmas Bericht, während sie mit einem kleinen Messer die gewaschenen Pilze in dünne Streifen schnitt. »Ich werde ihn befreien«, sagte sie schließlich.
Tahâma schüttelte den Kopf. »Nein, das ist meine Aufgabe. Céredas ist mein Freund. Er vertraut mir, und ich werde ihn nicht im Stich lassen.«
»Warum bist du dann gekommen? Willst du dich meinem Rat verschließen?«
Tahâma trat zu Aylana und drückte ihr die Hand. »Verzeih. Natürlich möchte ich deinen Rat annehmen. Ich will nur nicht, dass du dich in Gefahr begibst, während ich hier in Sicherheit warte.«
Aylana lächelte. »Wir werden beide unseren Teil beitragen. Wenn du es wünschst, wirst du seine Fesseln lösen. Unser Freund Wurgluck allerdings sollte hier in der Hütte zurückbleiben.«
»Ja, da hast du Recht«, stimmte ihr das Blauschopfmädchen zu.
Wurgluck maulte, aber Tahâma war sich sicher, dass er heilfroh war, von dieser gefährlichen Mission verschont zu werden. Er zeigte den Frauen eine finstere Miene und saß mit verschränkten Armen da, bis ihn der Duft von gebratenen Pilzen aus seiner Ecke lockte. Mit gutem Appetit aß er drei Portionen und lobte Aylanas Kochkunst. Tahâma dagegen brachte kaum einen Bissen hinunter. Um ihren Mund zuckte es vor Anspannung.
Aylana strich ihr über die Hand. »Ich kann deine Furcht spüren. Sei ganz ruhig. Wir werden es schaffen und dem Lord die Beute vor seiner Nase entführen.«
»Aber was ist, wenn Centhân seine Pläne ändert? Was, wenn er Céredas in seinem Verlies töten lässt?«
Aylana runzelte die Stirn, dann aber schüttelte sie den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Der Lord und alle seine Kreaturen brauchen lebendige Wesen. Mit einem Leichnam können sie nichts anfangen.«
»Aber hier geht es doch nicht darum, was der Lord will oder braucht«, begehrte Tahâma auf. »Hier geht es ganz allein darum, was mein Großvater beschließt!«
Aylana schüttelte noch einmal nachdrücklich den Kopf. »Das will er alle glauben machen, ich dagegen sage dir: In diesem Land geht es immer nur darum, was der Lord braucht und will.«
Tahâma sah sie ungläubig an, aber sie sagte nichts mehr darauf. Ungeduldig wartete sie, bis die Sonne hinter den Bäumen verschwunden war. Wie langsam es heute dunkel wurde. Wollten die Monde denn gar nicht aufgehen?
Endlich führte Aylana Glyowind herbei. Sie reichte dem Blauschopfmädchen einen mit ihr fremden Zeichen versehenen Dolch. »Sie werden deinen Freund gefesselt zum Opferaltar bringen. Dieser Klinge aber können nicht einmal Ketten widerstehen. Der Lord wird ganz in der Nähe sein, deshalb sieh dich nicht um. Eile dich! Ich werde ihn nur für ein paar Augenblicke ablenken können. Bis dahin muss Céredas auf seinem Pferd sitzen.«
»Und dann?«
»Dann werden wir den Wölfen und Werwags zu entkommen suchen. Es wird ein harter Ritt, aber eure beiden Rappen werden es schon überstehen. Wenn wir diesen Hügel unversehrt erreichen, sind wir in Sicherheit.«
Tahâma brannten noch viele Fragen auf der Zunge, doch sie nickte nur stumm. Sie umarmte Wurgluck, dem Aylana eingeschärft hatte, die Tür nicht zu öffnen, egal, was draußen vor sich ginge. Dann
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