Die Seele der Nacht
Tag, den er an ihrer Seite verbracht hatte, erschien ihm nun als ein wertvolles Geschenk.
Céredas barg das Gesicht in seinen Händen, seine Schul tern begannen zu beben. »Wie soll ich das ertragen?«, flüsterte er. »Meine Kraft schwindet, mein Wille erlahmt. Ich fühle, wie die eisige Angst an meinen Beinen emporkriecht. Was wird passieren, wenn sie meinen Geist erreicht? Ach, Wur luck, du stolzer, kleiner Kerl. Nichts und niemand kann mir noch helfen. Es wird geschehen, ich spüre es! Werdet ihr um mich trauern, oder werde ich bald schon aus eurem Gedächtnis gelöscht sein?«
Hastig wischte er sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Ein Jäger aus dem schwarzen Felsengebirge weinte nicht, egal, was für ein Schicksal ihn erwartete. Selbst wenn er wüsste, sagte sich Céredas, dass er am nächsten Morgen von einem Bären zerrissen würde oder in einer Schlucht zu Tode stürzen müsste, er würde nicht verzagen und sein Schicksal annehmen. Aber dieser Schatten, der auf ihn zukam, um ihn zu verschlingen, war mehr, als selbst der Tapferste ertragen konnte.
Kapitel 9
Die Flucht
Der Vormittag war schon fast vorbei, als der Wächter endlich die Tür öffnete und Tahâma und den Erdgnom mit einer Verbeugung aufforderte, ihm zu folgen. Während sie hinter ihm die Treppe hinaufgingen, konnten sie den Morgenhimmel durch das gläserne Dach sehen. Die silbernen Geländer glitzerten in der Sonne. Zu ihrer Überraschung führte der Wächter sie nicht in ein Zimmer auf der Galerie, sondern stieg die schwarz glänzenden Stufen bis zu ihrem Ende hoch und dann weiter eine schmale Stiege hinauf. Ein Sonnenstrahl blendete Tahâma, als der Wächter die Tür aufstieß und sie aufforderte weiterzugehen. Die Augen zusammengekniffen, trat sie hinaus und blieb dann staunend stehen. Wurgluck folgte ihr. Sie standen hinter einer steinernen Brüstung und sahen hinab auf die Stadt mit ihren eng aneinander gedrängten Dächern und den verwinkelten Gassen. Der Mauerring schimmerte fast weiß, dahinter fielen die Wiesen zum von Weiden gesäumten Bach hin ab. Das braune Band der Straße schlängelte sich durch das Grün, überquerte die Brücke und verlor sich dann in den Wäldern des gegenüberliegenden Talhangs. Hinter ihnen, ihm Westen, erhob sich die fast glatte Felswand in den Himmel. »Ein gewaltiger Anblick, nicht wahr?«, sagte eine sanfte Stimme. Lautlos war der Weise von Krizha zu ihnen getreten. »Ich liebe es, hier an der Brüstung zu stehen und über meine Stadt zu blicken. Von hier oben sehen die Bürger so klein und hilflos aus, und ich habe das Gefühl, ich müsste meine Hände ausstrecken, um sie zu beschützen.«
Tahâma drehte sich um und musterte ihn kühl. Ihre schwarzen Augen fixierten seine blauen. »Vielleicht solltet Ihr öfters hinuntersteigen und durch die Gassen gehen. So klein und zerbrechlich, wie Ihr denkt, sind Eure Bürger gar nicht!« Einige Augenblicke starrten sie sich abschätzend an.
»Guten Morgen, mein liebes Kind«, sagte Centhân, so als hätte der bisherige Teil der Unterhaltung nicht stattgefunden.
»Guten Morgen, Großvater«, erwiderte Tahâma, aber in ihrer Stimme schwang noch immer eine gewisse Schärfe.
Der Weise lehnte sich an die Brüstung und ließ versonnen den Blick schweifen. Seine Brust hob und senkte sich, als er die frische Luft in seine Lunge sog und langsam wieder entweichen ließ. »In Momenten wie diesen weiß ich, warum ich hier geblieben bin, warum ich nicht zu meinem Volk zurückkehren wollte.« Er schloss die Augen und ließ die wärmenden Sonnenstrahlen über seine immer noch glatte Haut streichen.
Tahâma kniff die Augen zusammen. Wohin sollte dieses Gespräch führen? Hatte man ihm nicht von den nächtlichen Ereignissen erzählt? Wusste er nicht, dass sie mit ihm über Céredas sprechen wollte? Sie öffnete den Mund, doch da erhob er aufs Neue seine Stimme:
»Ich habe dich hier heraufführen lassen, weil ich dir ein großartiges Geschenk anbieten möchte.« Nun ruhten seine blauen Augen wieder auf ihr. »Das alles kann einmal dein sein, wenn du nur möchtest. Lasse deinen Blick schweifen und staune. Ich spüre deine Begabung. Du bist von meinem Blut. Auch du bist anders als die anderen und wirst mit dem Leben, das sie dir zubilligen, nicht zufrieden sein. Deshalb darfst du bei mir bleiben und von mir lernen, bis du in vielen Jahren mein Erbe antreten wirst.«
Ein verlockendes Angebot, gewiss, dachte Tahâma rasch, aber etwas sträubte sich in ihr. Eine böse
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