Die Seele der Nacht
Schreckens, nun aber wird es mit jedem Jahr schlimmer, nein, mit jeder Nacht, in der ein neues, untotes Wesen von ihm erschaffen wird. Bald wird es kein Phantásien mehr geben, wie wir es seit Anbeginn der Zeiten kennen. Die freien Länder verschwinden im Nichts, und die freien Wesen Nazagurs werden vom dunklen Lord verschlungen. Selbst wir wissen noch nicht zu sagen, wie er sich in seinem letzten Kampf schlagen wird. Angst wird er dem Nichts nicht einjagen können. Aber bis es so weit ist, wird alles Schöne und Gute längst aus den Landen verschwunden sein.«
»Aber warum?«, fragte Tahâma leise. »Was gibt ihm diese Stärke, das Schöne und Gute zu vernichten?«
Crachna rückte ein Stück näher und senkte ihre Stimme. »Willst du einen Blick in die Menschenwelt werfen? Dort wirst du den Schlüssel finden.«
»In der Menschenwelt?« Das Mädchen keuchte.
Schon begannen Crachnas Augen wieder zu flimmern. Eine Flut von Bildern stürzte auf Tahâma ein, so dass ihr schwindelig wurde. Was hatte das alles zu bedeuten? Wie gebannt starrte sie in die gläsernen Augen, doch ihr Geist war nicht bereit zu begreifen, was sie sah. Endlich verloschen die zuckenden Bilder.
Tahâma sah noch eine Weile schweigend vor sich hin, unfähig, sich auch nur zu bewegen. »War die Menschenwelt schon immer so?«, fragte sie schließlich mit brüchiger Stimme.
Die Spinnenfrau schüttelte den Kopf. »Nein, früher glich sie ein wenig manchen Landschaften, wie man sie auch in Phantásien findet.«
»Sage mir, was hat die Menschenwelt mit uns zu tun? Ich will Nazagur vom Schattenlord befreien.«
Crachnas hohes, freudloses Gelächter hallte von den Wänden wider. »Die Menschen tragen den Schlüssel«, wiederholte sie. »Wer weiß, vielleicht wirst du die Antwort eines Tages finden. Geh jetzt, mach dich auf den Weg. Ich werde dich beobachten. Nichts kann mir entgehen, und so werde ich Zeuge deines Untergangs sein, kleines Blauschopfmädchen.«
Tahâma erhob sich. »Ihr meint also, ich hätte keine Chance, den Schattenlord zu besiegen?«
Wieder kicherte die Spinnenfrau. »Das habe ich nicht gesagt. Meine Augen sehen viel. Sie zeigen, wie es wird und wie es werden könnte. Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt. Geh jetzt und mach dich mit deinem kleinen Freund auf den Weg durch meine Schlucht. Ich bin müde und muss jetzt ruhen. Morgen werde ich euch verfluchen, dass ihr mir all meine Netze zerstört habt.«
Ihre Augen trübten sich ein, sie sank zurück auf das Mooslager und rührte sich nicht mehr. Offensichtlich war sie eingeschlafen. Tahâma sah sie noch einige Augenblicke an, dann machte sie sich auf den Rückweg. Sie ließ ihren Kristall leuchten und trat auf den Torbogen zu, durch den sie das Gemach betreten hatten. Das Mädchen durchquerte die große Halle, bog in einen Gang ein und folgte ihm leicht bergab. Bald schon kam sie an eine Weggabelung. Auf welchem Pfad war sie Crachna gefolgt? Sie entschied sich für den einen, kehrte aber gleich wieder um und versuchte den anderen. Beide kamen ihr fremd vor. Hatte sie gar einen falschen Ausgang aus der großen Halle gewählt? Sie machte kehrt und ging zur Halle zurück. Ja, dort waren noch weitere Gänge, die ins Finstere des Berges führten. Zaghaft versuchte sie einen von ihnen, aber auch er schien ihr fremd. Wieder kehrte sie um. Sollte sie Crachna wecken und um Hilfe bitten? Die Spinnenfrau würde sicher nicht erfreut sein, aus ihrem Schlaf gerissen zu werden. Aber sollte sie riskieren, sich hier in diesem Höhlenlabyrinth zu verlaufen? Nein!
So durchquerte sie erneut die Halle. Doch auf der anderen Seite traf sie nur auf festen Stein. Sie leuchtete nach rechts und nach links, konnte den Durchgang zu Crachnas Gemach aber nicht entdecken. Unruhe stieg in ihr auf. Sie folgte der Wand der großen Höhle, doch auch nachdem sie einmal im Kreis gegangen war, konnte sie den Torbogen nicht entdecken. Wie war das möglich? War der Durchgang nicht mehrere Schritte breit und ebenso hoch gewesen? Wie konnte sie ihn dann übersehen? Noch einmal schritt Tahâma die Halle ab. Das Gemach, in dem die Spinnenfrau ruhte, blieb verschwunden. Zaghaft versuchte sie immer wieder den einen oder anderen Gang, doch jedes Mal machte sie schon nach wenigen Schritten kehrt. Wenn sie einem dieser Gänge folgte, würde sie sich hoffnungslos verlaufen.
»Crachna!«, rief sie laut und lauschte dem Echo, das von den Wänden widerhallte. »Dame Crachna, helft mir, meinen Rückweg zu finden!«
Die Worte
Weitere Kostenlose Bücher