Die Seele des Königs (German Edition)
hätten bereits die Gelegenheit herauszufinden, was tatsächlich mit ihm passiert ist.«
» Dann wählt jemanden aus, dem Ihr vertraut«, sagte Shai. » Erlasst eine Regel für die Tür zu den Gemächern des Kaisers. Niemand darf eintreten, der nicht eine Karte mit Eurer persönlichen Signatur besitzt. Ja, ich weiß, warum Ihr jetzt den Mund aufmacht und etwas einwenden wollt. Ich weiß genau, wie gut die Gemächer des Kaisers bewacht werden – das habe ich schließlich genau untersucht, bevor ich in die Galerie eingebrochen bin. Aber Eure Sicherheitsvorkehrungen sind nicht ausreichend, wie das Attentat bewiesen hat. Tut, was ich Euch vorgeschlagen habe. Je mehr Sicherungen Ihr anbringt, desto besser ist es. Wenn das, was dem Kaiser zugestoßen ist, nach außen dringt, werde ich zweifellos wieder in jener Zelle enden und auf meine Hinrichtung warten.«
Gaotona seufzte, aber er nickte. » Was schlägst du sonst noch vor?«
TAG SIEBZEHN
E ine kühle, mit unvertrauten Gewürzen durchmischte Brise kroch durch die Spalten um Shais verzogenes Fenster. Auch gedämpfter Jubel drang von draußen herein. Die Stadt feierte. Es war Delbahad, ein Festtag, den vor zwei Jahren noch niemand gekannt hatte. Die Fraktion des Erbes belebte alte Feste neu, um sich damit im Volk beliebt zu machen.
Es würde nicht helfen. Das Reich war keine Republik, und die Einzigen, die über die Salbung eines neuen Kaisers entschieden, waren die Schlichter der verschiedenen Fraktionen. Shai wandte ihre Aufmerksamkeit vom Festlärm ab und las weiter im Tagebuch des Kaisers.
Ich habe nach langem Zögern beschlossen, mich den Forderungen meiner Fraktion zu beugen , stand dort. Ich werde mich als Kaiser anbieten, wie Gaotona es schon so oft angeregt hat. Kaiser Yazads Krankheit schwächt ihn immer mehr, und bald wird eine neue Wahl abgehalten werden müssen .
Shai machte sich Notizen. Gaotona hatte Ashravan dazu ermuntert, nach dem Thron zu streben. Doch später im Tagebuch sprach Ashravan verächtlich über Gaotona. Warum dieser Wechsel? Sie beendete ihre Notiz und wandte sich einer anderen Eintragung zu, die Jahre später gemacht worden war.
Kaiser Ashravans persönliches Tagebuch faszinierte sie. Er hatte es mit eigener Hand geschrieben und darin auch die Bestimmung festgehalten, dass es bei seinem Tod vernichtet werden sollte. Die Schlichter hatten ihr das Tagebuch nur widerstrebend und unter lautstarken Rechtfertigungen ausgehändigt. Er war schließlich nicht gestorben. Sein Körper lebte noch. Deshalb war es richtig, dass sie seine Schriften noch nicht verbrannt hatten.
Sie sprachen mit großer Zuversicht, aber Shai konnte die Unsicherheit in ihren Blicken sehen. Sie waren einfach zu lesen – alle außer Gaotona, dessen tiefste, innerste Gedanken ihr noch immer entgingen. Die Schlichter verstanden den Grund für dieses Tagebuch nicht. Warum schrieb man, fragten sie sich, wenn nicht für die Nachwelt? Warum brachte jemand seine Gedanken zu Papier, wenn niemand anderes sie lesen sollte?
Genausogut könnte man eine Fälscherin fragen, warum sie so große Befriedigung daraus zieht, eine Fälschung zu erschaffen und diese ausgestellt zu sehen, dachte Shai , wo doch niemand weiß, dass es ihr Werk und nicht das des ursprünglichen Künstlers ist .
Das Tagebuch verriet ihr viel mehr über den Kaiser als die offiziellen Geschichtsbücher, und das lag nicht nur am Inhalt. Die Seiten des Buches waren vom andauernden Umblättern fleckig und abgegriffen. Ashravan hatte dieses Buch geschrieben, damit jemand es las – er selbst.
Welche Erinnerungen hatte Ashravan als so tiefschürfend angesehen, dass er sie immer wieder lesen wollte? War er eitel und genoss nur die Erregung vergangener Eroberungen? Oder war er unsicher? Verbrachte er Stunden damit, diese Worte zu durchstöbern, weil er seine Fehler rechtfertigen wollte? Oder gab es einen anderen Grund?
Die Tür zu ihrem Zimmer wurde geöffnet. Inzwischen klopfte niemand mehr vorher an. Warum auch? Es wurde ihr bereits jeder andere Anschein von Privatsphäre verweigert. Sie war noch immer eine Gefangene, bloß eine wichtigere als früher.
Schlichterin Frava trat ein, anmutig, langgesichtig, in einer Robe aus sanftem Violett. Diesmal war ihr grauer Zopf mit Gold und Violett durchwirkt. Hauptmann Tzu begleitete sie. Shai seufzte innerlich auf und rückte ihre Brille zurecht. Sie hatte sich auf eine ungestörte Nacht des Studierens und Planens gefreut, da Gaotona zu den Festlichkeiten gegangen
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