Die Seele des Königs (German Edition)
zurückgekehrt.
Dann hatte Shai ein Stück farbiges Glas entdeckt, das in die eine Seite des Rahmens gebohrt worden war. Sie erkannte, dass das Fenster einmal Bleiglas getragen hatte, wie es bei so vielen Fenstern im Palast der Fall war. Es war irgendwann zerbrochen, und was immer das Glas vernichtet hatte, hatte auch den Rahmen verzogen und diese Risse verursacht, durch die nun die kühle Luft einströmen konnte.
Anstatt es wieder so herzustellen, wie es einmal gewesen war, hatte man Klarglas eingesetzt und den Rahmen nicht gerichtet. Ein Stempel in der unteren rechten Ecke hatte das Fenster wiederhergestellt und ihm eine neue Geschichte gegeben, nach der ein fürsorglicher Handwerker das herausgebrochene Fensterglas gefunden und erneuert hatte. Das Siegel hatte sofort gehalten. Selbst nach so langer Zeit hatte sich das Fenster noch als wunderschön empfunden.
Oder Shai war einfach nur wieder romantisch geworden.
» Ihr habt gesagt, Ihr werdet mir eine Testperson bringen«, sagte Shai und blies den Staub von einem frisch beschnitzten Seelenstempel. Sie grub eine Reihe schneller Zeichen in die Hinterseite gegenüber dem reich verzierten Kopf. Das Setzzeichen machte jeden Seelenstempel fertig und zeigte an, dass keine Schnitzereien mehr kommen würden. Shai hatte immer den Eindruck gehabt, dass es den Umriss von MaiPon, ihrem Heimatland hatte.
Als sie mit diesem Zeichen fertig war, hielt sie den Stempel über die Flamme. Das Feuer härtete den Seelenstein, sodass er nicht mehr splittern konnte. Eigentlich war es gar nicht nötig, dies zu tun, denn die Ankermarken auf dem oberen Ende waren das einzig Wichtige, und Shai hätte einen Stempel aus jedem Material schnitzen können, solange sie nur präzise genug arbeitete. Seelenstein wurde aber gerade wegen dieses Härtungsverfahrens sehr geschätzt.
Sobald der ganze Stempel durch die Kerzenflamme geschwärzt war – zuerst das eine Ende, dann das andere –, hielt sie ihn hoch und blies kräftig dagegen. Rußflocken lösten sich unter ihrem Atem und enthüllten das wunderschön geäderte Rot und Grau des Steins darunter.
» Ja«, sagte Gaotona. » Eine Testperson. Ich habe eine mitgebracht, wie versprochen.« Gaotona ging quer durch den kleinen Raum zur Tür, vor der Tzu Wache stand.
Shai lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, den sie schon vor einigen Tagen zu einem viel bequemeren gefälscht hatte, und wartete. Sie hatte mit sich selbst gewettet. Würde die Person jemand aus der kaiserlichen Wache sein? Oder vielleicht ein niedriger Amtsträger aus dem Palast – möglicherweise der Mann, der für Ashravan Aufzeichnungen machte? Welche Person würden die Schlichter dazu zwingen, Shais Blasphemie zugunsten eines angeblich höheren Zwecks zu erdulden?
Gaotona setzte sich auf den Stuhl neben der Tür.
» Nun?«, fragte Shai.
Er hob die Hände. » Du kannst anfangen.«
Shai stellte die Füße auf den Boden und hielt den Rücken gerade. » Ihr?«
» Ja.«
» Ihr seid einer der Schlichter! Eine der mächtigsten Personen im ganzen Reich!«
» Ah«, meinte er, » das hatte ich noch gar nicht bemerkt. Aber ich passe genau zu deinen Anforderungen. Ich bin ein Mann, bin in Ashravans Geburtsort auf die Welt gekommen und kannte ihn sehr gut.«
» Aber …« Shai verstummte.
Gaotona beugte sich vor und faltete die Hände. » Wir haben wochenlang darüber gesprochen. Andere Möglichkeiten wurden erwogen, aber wir haben beschlossen, dass wir nicht guten Gewissens jemand anderen von unseren Leuten dieser Blasphemie unterwerfen können. Die einzige Möglichkeit bestand darin, dass sich einer von uns anbietet.«
Shai versuchte, ihren Schock abzuschütteln. Frava hätte es keine Schwierigkeiten bereitet, eine andere Person dafür zu finden , dachte sie. Und auch den übrigen Schlichtern wäre das ohne Weiteres möglich gewesen. Du musst darauf bestanden haben, Gaotona .
Sie betrachteten ihn als Rivalen; möglicherweise war es ihnen sehr recht, dass er sich Shais angeblich so schrecklichen, verdrehten Taten unterwerfen musste. Was sie vorhatte, war vollkommen harmlos, aber davon würde sich kein Erhabener überzeugen lassen. Dennoch wünschte sie sich, sie könnte Gaotona jegliche Angst nehmen, als sie ihren Stuhl vor ihn zog und das kleine Kästchen mit den Stempeln öffnete, das sie während der letzten drei Wochen hergestellt hatte.
» Diese Stempel werden nicht halten«, sagte sie und hob einen von ihnen an. » So nennen wir Fälscher es, wenn ein Stempel eine
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