Die Seele des Königs (German Edition)
nicht mehr besäße?«
» Ich dachte, Ihr wollt ihn genauso haben, wie er früher war«, meinte Shai. » So nahe am Original wie möglich.«
» Ja, ja. Aber du bist als eine der besten Fälscherinnen bekannt, die je gelebt haben, und ich weiß aus sicherer Quelle, dass du besonders talentiert darin bist, deine eigene Seele zu stempeln. Sicherlich kannst du Ashravans Seele genau nachschaffen, aber bestimmt bist du auch in der Lage, ihm die Neigung zu geben, auf die Vernunft zu hören … wenn diese Vernunft von bestimmten Personen vertreten wird.«
Brennende Nacht! , dachte Shai. Gleich wirst du damit herauskommen und es sagen, nicht wahr? Du willst, dass ich in die Seele des Kaisers eine Hintertür einbaue, durch die du Zutritt erhältst, und du besitzt nicht einmal den Anstand, dich deswegen zu schämen .
» Ich … könnte wohl so etwas tun«, sagte Shai, als ob sie zum ersten Mal darüber nachdächte. » Es wäre schwierig. Und ich würde eine Belohnung fordern, die dem Aufwand entspricht.«
» Eine angemessene Belohnung wäre selbstverständlich«, sagte Frava und wandte sich ihr zu. » Vermutlich hast du vor, den Kaiserthron zu verlassen, sobald du in Freiheit bist, aber warum eigentlich? Diese Stadt könnte für dich voller Möglichkeiten sein, vor allem wenn ein Herrscher auf dem Thron sitzt, der dir wohlgesinnt ist.«
» Sprecht unverblümter, Schlichterin«, sagte Shai. » Ich habe noch eine lange Nacht des Studierens vor mir, während die anderen feiern. Ich habe keine Lust auf Wortspielchen.«
» In dieser Stadt blüht insgeheim der Schmuggel«, sagte Frava. » Ihn im Auge zu behalten, ist so etwas wie ein Hobby für mich geworden. Es wäre sehr hilfreich, wenn jemand die Oberhand über den Schmuggel hätte, dem ich vertrauen kann. Ich gebe sie dir, wenn du meinen Wünschen entsprichst.«
Es war stets dasselbe – immer glaubten die anderen zu wissen, warum Shai das tat, was sie tat. Immer glaubten sie, Shai würde eine solche Gelegenheit sofort ergreifen, denn sie nahmen an, dass ein Schmuggler und ein Fälscher grundsätzlich das Gleiche waren, weil beide sich gegen die Gesetze der anderen stellten.
» Das klingt gut«, sagte Shai und setzte ihr echtestes Lächeln auf – jenes, das den offenen Anschein der Unaufrichtigkeit hatte.
Frava schenkte ihr ein breites Grinsen. » Ich will dir Zeit zum Nachdenken geben«, sagte sie, öffnete die Tür und klatschte in die Hände, damit die Wachen wieder eintraten.
Shai sank auf ihren Stuhl und war entsetzt – nicht wegen des Angebotes – so etwas hatte sie schon seit einigen Tagen erwartet –, sondern weil sie erst jetzt seine Bedeutung begriff. Es war natürlich nur vorgetäuscht. Frava könnte ihr zwar tatsächlich eine solche Position verschaffen, aber sie würde es niemals tun. Selbst wenn die Frau bisher nicht vorgehabt hatte, Shai zu töten, blieb ihr nach diesem Angebot nichts anderes mehr übrig.
Aber es steckt noch mehr dahinter. Viel mehr. Sie ist der Meinung, dass sie in meinen Kopf gerade den Vorsatz eingepflanzt hat, einen Kontrollmechanismus in den Kaiser einzubauen. Sie wird meiner Fälschung nicht vertrauen. Sie erwartet, dass ich einen Zugang einfüge, der nicht ihr, sondern mir die völlige Herrschaft über Ashravan ermöglicht .
Was bedeutete das?
Es bedeutete, dass Frava noch einen weiteren Fälscher zur Hand hatte. Vermutlich hatte er nicht das Talent oder den Mut, die Seele eines anderen zu fälschen, doch er war sicherlich in der Lage, Shais Arbeit zu überprüfen und herauszufinden, ob sie möglicherweise einen Zugang für sich selbst eingebaut hatte. Diesem Fälscher wurde mehr vertraut, und er konnte Shais Arbeit überschreiben und Frava die Herrschaft über den Kaiser verschaffen.
Vielleicht waren sie sogar in der Lage, Shais Arbeit zu beenden, sobald sie weit genug gekommen war. Shai hatte vorgehabt, die vollen hundert Tage zur Planung ihrer Flucht zu nutzen, doch nun erkannte sie, dass ihre plötzliche Überprüfung jederzeit stattfinden konnte.
Je näher sie der Beendigung des Projektes kam, desto wahrscheinlicher wurde dies.
TAG DREISSIG
D as ist neu«, sagte Gaotona und betrachtete das Bleiglasfenster.
Für Shai war es eine außerordentlich angenehme Erfahrung gewesen. Bisher waren ihre Versuche, das Fenster zu einer besseren Version seiner selbst zu machen, beständig gescheitert. Jedes Mal war das Fenster nach ungefähr fünf Minuten zu seinem ursprünglichen, schiefen und spaltenreichen Selbst
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