Die Seele des Königs (German Edition)
weißt du, wie verzweifelt wir sind«, sagte er leise und verschränkte die Hände vor seinem Bauch. » Wenn du tatsächlich weglaufen solltest, übergeben wir dich dem Blutsiegler. Deine Knochen werden zu seinem nächsten Schoßtier werden. Dieses Versprechen war alles, was er sich als Bezahlung erbeten hat. Jetzt kannst du mit deiner Arbeit anfangen, Fälscherin. Mache sie gut, und du wirst diesem Schicksal entkommen.«
TAG FÜNF
S ie machte sich an die Arbeit.
Shai grub sich durch die Berichte über das Leben des Kaisers. Nur wenige Leute begriffen, wie sehr es bei jeder Fälschung um Studium und Nachforschungen ging. Es war eine Kunst, die jeder Mann und jede Frau erlernen konnte; sie bedurfte nur einer ruhigen Hand und eines Auges für die Einzelheiten.
Und der Bereitschaft, Wochen, Monate oder sogar Jahre mit der Herstellung des vollkommenen Seelenstempels zu verbringen.
Shai hatte nicht so viel Zeit zur Verfügung. Sie fühlte sich gedrängt, während sie eine Lebensbeschreibung nach der anderen las; oft blieb sie bis tief in die Nacht auf und machte sich Notizen. Sie glaubte nicht, dass ihr das gelingen würde, was man von ihr verlangte. Eine glaubhafte Fälschung der Seele eines anderen Menschen war insbesondere in so kurzer Zeit einfach nicht möglich. Sie musste ein gutes Schauspiel aufführen, während sie gleichzeitig ihre Flucht plante.
Es war ihr nicht erlaubt, den Raum zu verlassen. Sie benutzte einen Nachttopf, wenn die Natur rief, und wenn sie baden wollte, erhielt sie einen Zuber mit warmem Wasser sowie frische Kleidung. Ständig war sie unter Beobachtung, auch wenn sie badete.
Der Blutsiegler kam jeden Morgen und erneuerte sein Zeichen an der Tür. Jedes Mal war dazu ein wenig von Shais Blut nötig. Bald waren ihre Arme mit Schnitten übersät.
Immer wieder erhielt sie Besuch von Gaotona. Der alte Schlichter beobachtete sie, wenn sie las. In seinem Blick lag Nachdenklichkeit, aber kein Hass.
Während sie ihre Pläne schmiedete, traf sie eine Entscheidung. Wenn sie fliehen wollte, musste sie diesen Mann auf irgendeine Weise manipulieren.
TAG ZWÖLF
S hai drückte ihren Stempel auf die Tischplatte.
Wie immer sank er ein wenig in das Holz ein. Ein Seelenstempel hinterließ stets ein Siegel, das man fühlen konnte, gleichgültig in welches Material er eingedrückt wurde. Sie machte eine halbe Drehung mit ihm – es verwischte die Tinte nicht, auch wenn sie nicht wusste, warum das so war. Einer ihrer Mentoren hatte ihr gesagt, der Grund liege darin, dass das Siegel nicht die körperliche Präsenz, sondern die Seele des Gegenstandes berührte.
Als sie den Stempel zurückzog, hinterließ er ein hellrotes Siegel im Holz, das wie eingeschnitzt wirkte. Die Umwandlung breitete sich von dem Siegel in wellenförmigen Bewegungen aus. Das splitterige, mattgraue Zedernholz des Tisches war nun wunderschön und gut gepflegt; es hatte eine warme Patina, die das Licht der Kerzen vor Shai widerspiegelte.
Sie legte die Finger auf den neuen Tisch; er war ganz glatt. Die Kanten und Beine waren reich beschnitzt und hier und dort mit Silber eingelegt.
Gaotona setzte sich aufrecht und senkte das Buch, in dem er gelesen hatte. Tzu regte sich unbehaglich, als er die Fälschung sah.
» Was war das?«, wollte Gaotona wissen.
» Ich war es leid, immer nur diese Splitter zu sehen«, sagte Shai und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Er knirschte. Du bist als Nächstes dran , dachte sie.
Gaotona stand auf und ging zum Tisch. Er berührte das Holz, als ob er erwartete, dass die Umwandlung eine reine Illusion war. Aber das war sie nicht. Der elegante Tisch wirkte nun sehr unpassend in dem schäbigen Raum. » Das ist es, was du in der letzten Zeit gemacht hast?«
» Schnitzen hilft mir beim Denken.«
» Du hättest dich auf deine Aufgabe konzentrieren sollen!«, sagte Gaotona. » Du erschaffst Frivolitäten, während das Reich in Gefahr ist!«
Nein , dachte Shai, nicht das Reich selbst, sondern nur eure Herrschaft über es . Leider hatte sie auch nach elf Tagen noch keinen Angriffspunkt bei Gaotona gefunden, den sie sich zunutze machen konnte.
» Ich arbeite durchaus an Eurem Problem, Gaotona«, sagte sie. » Aber was Ihr von mir haben wollt, ist nicht gerade leicht.«
» War das Umwandeln des Tisches etwa leicht?«
» Natürlich«, sagte Shai. » Ich musste bloß seine Vergangenheit umschreiben, sodass er stets gut gepflegt wurde, statt vernachlässigt worden zu sein. Dazu war nur wenig Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher