Die Seele des Königs (German Edition)
gewesen war.
Er war tatsächlich ein Idealist gewesen, wie Gaotona gesagt hatte. Das erkannte sie nun an der Vorsicht und den Sorgen in seinen frühen Schriften und an der Art und Weise, wie er seine Diener behandelt hatte. Das Reich war kein Schreckensgebilde. Aber es war auch nicht gerade eine wunderbare Einrichtung. Das Reich bestand einfach. Die Leute ertrugen die Herrschaft, weil sie sich trotz seiner kleinen Tyranneien behaglich darin eingerichtet hatten. Korruption war unausweichlich. Man lebte damit. Entweder das, oder man musste das Chaos des Unbekannten hinnehmen.
Die Erhabenen wurden mit außerordentlicher Bevorzugung behandelt. Der Eintritt in den Regierungsdienst, die lohnendste und angesehenste Beschäftigung, hing eher von Beziehungen und Bestechungsgeldern ab als von Fähigkeiten oder Eignung. Überdies wurden jene, die dem Reich am besten dienten – die Kaufleute und Arbeiter –, systematisch von Hunderten Händen in ihren Taschen ausgeraubt.
Alle wussten darum. Ashravan hatte es ändern wollen. Zunächst.
Und dann … Nun, eigentlich hatte es kein genau bestimmbares Und dann gegeben. Dichter würden auf einen bestimmten Makel in Ashravans Natur hinweisen, der zu seinem Versagen geführt hatte, aber kein Mensch hatte nur einen einzigen Makel, genauso wenig wie er nur eine einzige Leidenschaft besaß. Wenn Shai ihre Fälschung auf nur einem einzelnen Wesensmerkmal aufbaute, dann würde sie ein Zerrbild und keinen Menschen erschaffen.
Aber … was war das Beste, worauf sie hoffen konnte? Vielleicht sollte sie sich um besondere Glaubwürdigkeit in einer speziellen Umgebung konzentrieren und einen Kaiser formen, der sich perfekt am Hof bewegte, auch wenn er jene, die ihm am nächsten standen, nicht täuschen konnte. Vielleicht würde das funktionieren, so wie die Bühnenrequisiten im Theater. Sie dienten ihrem Zweck, solange das Schauspiel lief, hielten aber einer eingehenden Betrachtung nicht stand.
Das war ein erreichbares Ziel. Vielleicht sollte sie zu den Schlichtern gehen, ihnen erklären, was möglich war und was nicht, und ihnen einen weniger vollkommenen Kaiser geben – eine Puppe, die sie bei offiziellen Anlässen benutzen und dann mit der Begründung, er sei zunehmend kränklich, wieder entfernen konnten.
Das wäre eine Möglichkeit.
Aber Shai wollte sie nicht ergreifen.
Es lag keine Herausforderung darin. Das war die Version eines Straßenräubers, der nur einen schnellen Gewinn zum Ziel hatte. Die Art des Fälschers aber war es, etwas Dauerhaftes zu schaffen.
Tief in ihrem Innern war sie begeistert von dieser Herausforderung. Sie stellte fest, dass sie Ashravan zu neuem Leben verhelfen wollte . Sie wollte es zumindest versuchen.
Shai legte sich auf ihrem Bett zurück, das sie inzwischen durch ihre Kunst bequemer gemacht hatte; es besaß nun Pfosten und eine dicke Dauendecke. Die Vorhänge hielt sie zugezogen. Ihre Wächter für den Abend spielte eine Runde Karten an ihrem Tisch.
Warum mühst du dich ab, Ashravan zu neuem Leben zu verhelfen? , dachte Shai. Die Schlichter werden dich töten, noch bevor du dein Werk sehen kannst. Dein einziges Ziel sollte die Flucht sein .
Und dennoch … der Kaiser persönlich! Sie hatte beschlossen, das Mondzepter zu stehlen, weil es der berühmteste Gegenstand im ganzen Reich war. Und sie hatte eines ihrer eigenen Werke in der Großen kaiserlichen Galerie ausstellen wollen.
Doch das, woran sie nun arbeitete … es war ungleich größer. Welcher Fälscher hatte schon einmal so etwas vollbracht? Eine Fälschung, die auf dem Rosenthron saß?
Nein , sagte sie mit größerer Strenge zu sich selbst. Lass dich nicht verführen. Stolz, Shai. Stolz darf nicht zur Triebfeder deines Handelns werden .
Sie öffnete ihr Buch auf den hinteren Seiten, wo sie ihre Fluchtpläne verschlüsselt niedergeschrieben hatte, sodass sie wie ein Wörterbuch für Begriffe und Personen wirkte.
Gestern war der Blutsiegler herbeigelaufen, als ob er befürchtet hätte, zu spät für das neue Siegel zu kommen. Seine Kleidung hatte nach starken alkoholischen Getränken gerochen. Er genoss die Gastfreundschaft des Palastes. Wenn er einmal eines Morgens ganz früh kam und sie dann dafür sorgen konnte, dass er in der folgenden Nacht besonders betrunken war …
Die Berge der Greifer grenzen an Dzhamar, wo die Sümpfe der Blutsiegler lagen. Der Hass der beiden Völker aufeinander war tief verwurzelt – tiefer sogar als ihre Treue dem Reich gegenüber. Einige der Greifer
Weitere Kostenlose Bücher