Die Seele des Königs (German Edition)
Ashravan war ein bescheidener Mensch.«
Sie hob eine Braue. Das passte nicht zu den Berichten, die sie erhalten hatte.
» Oh, er konnte ein Hitzkopf sein«, sagte Gaotona. » Und wenn man ihn in einen Streit hineinzog, verbiss er sich und klammerte sich an seinen Standpunkt. Aber dieser Mann … dieser Mann war … tief in seinem Innern sehr demütig. Das musst du über ihn wissen.«
» Ich verstehe«, sagte sie. Das hast du ihm angetan, nicht wahr? , dachte Shai. Du hast ihm dieses Gefühl der Enttäuschung und die Meinung eingeflüstert, dass wir ein besseres Volk sein sollten, als wir sind . Shai war offenbar nicht die Einzige, die sich von Gaotona behandelt fühlte wie von einem unzufriedenen Großvater.
Deswegen würde sie diesen Mann gern als unwesentlich abtun. Aber … er hatte sich für die Tests angeboten. Er glaubte, dass das, was sie tat, schrecklich war, und so hatte er darauf bestanden, es über sich selbst ergehen zu lassen, anstatt jemand anderen zu schicken.
Du bist schon ziemlich aufrichtig, alter Mann, nicht wahr? , dachte Shai, als Gaotona sich wieder zurücklehnte und den Blick in die Ferne richtete, als sähe er den Kaiser. Nun war sie es, die unzufrieden war.
In ihrem Beruf gab es viele, die ehrliche Menschen auslachten und sie einfache Beute nannten. Das war ein Trugschluss. Ehrlichkeit war nicht mit Naivität gleichzusetzen. Ein unehrlicher Narr und ein ehrlicher Narr waren gleichermaßen leicht zu täuschen; man musste nur verschiedene Wege einschlagen.
Doch ein Mensch, der sowohl ehrlich als auch klug war, war stets schwerer zu betrügen als jemand, der zugleich unehrlich und klug war.
Aufrichtigkeit. Sie war logischerweise am schwierigsten zu fälschen.
» Welche Gedanken ziehen gerade hinter deinen Augen herum?«, fragte Gaotona und beugte sich vor.
» Ich dachte daran, dass Ihr den König sicherlich genauso wie mich behandelt und ihn mit Euren andauernden Ratschlägen und Eurer Nörgelei verärgert habt.«
Gaotona schnaubte verächtlich. » Vermutlich habe ich genau das getan. Aber das heißt nicht, dass ich damit unrecht hatte oder habe. Er hätte … nun, er hätte viel mehr sein können, als er war. So wie du eine wunderbare Künstlerin hättest werden können.«
» Ich bin eine.«
» Ich meine eine richtige.«
» Ich bin eine richtige.«
Gaotona schüttelte den Kopf. » Fravas Gemälde … da ist uns etwas entgangen, nicht wahr? Sie hatte die Fälschung untersuchen lassen, und die Prüfer fanden einige winzige Fehler. Ohne fremde Hilfe hätte ich sie nie bemerkt – aber sie sind da. Wenn ich es mir recht überlege, ist das sehr merkwürdig. Die Pinselstriche sind makellos, sogar meisterlich. Der Stil ist vollkommen nachgeahmt. Wenn du so etwas kannst, warum hast du dann solche Fehler wie den etwas zu tief hängenden Mond eingebaut? Es ist nur eine winzige Kleinigkeit, aber mir scheint, dass du es absichtlich gemacht hast.«
Shai drehte sich um und nahm ein weiteres Siegel in die Hand.
» Das Gemälde, das als das Original angesehen wird«, fuhr Gaotona fort, » dasjenige, das jetzt in Fravas Büro hängt … das ist auch eine Fälschung, nicht wahr?«
» Ja«, gab Shai mit einem Seufzen zu. » Ich hatte die Bilder ein paar Tage vor dem Zepter ausgetauscht, als ich die Sicherheitsvorkehrungen im Palast überprüft habe. Ich habe mich in die Galerie geschlichen, Fravas Büro betreten und den Austausch als eine Art Test durchgeführt.«
» Also ist das Bild, das jetzt als Fälschung angesehen wird, in Wirklichkeit das Original«, sagte Gaotona und grinste. » Du hast die Fehler in das echte Bild gemalt, damit es wie eine Fälschung aussieht!«
» Eigentlich nicht«, sagte Shai. » Auch wenn ich es in der Vergangenheit manchmal so gemacht habe. Beide Bilder sind Fälschungen. Die eine ist bloß offensichtlich und sollte entdeckt werden, falls etwas schiefgeht.«
» Also ist das Original noch irgendwo versteckt …«, sagte Gaotona; er klang neugierig. » Du hast dich in den Palast gestohlen, um die Sicherheitsmechanismen auf die Probe zu stellen, und dann hast du das Original durch eine Kopie ersetzt. Eine zweite, etwas schlechtere Kopie hast du als falsche Spur in deinem Zimmer gelassen. Wenn du entdeckt worden wärest, als du dich hereingeschlichen hast – oder wenn du aus irgendeinem Grund von einem Mitwisser verraten worden wärest –, hätten wir dein Zimmer durchsucht, die schlechte Kopie gefunden und angenommen, du hättest den Austausch noch nicht
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