Die Seele des Königs (German Edition)
schienen angeekelt zu sein, wenn der Blutsiegler erschien. Shai hatte sich mit den Wächtern ein wenig angefreundet. Man machte Scherze im Vorübergehen. Man machte Bemerkungen über die zufällige Ähnlichkeit der Herkunft von Wächtern und Bewachter. Die Greifer sollten eigentlich nicht mit Shai reden, aber inzwischen waren viele Wochen vergangen, in denen Shai nichts anderes getan hatte als Bücher zu lesen und mit alten Schlichtern zu reden. Die Wächter waren gelangweilt, und Langeweile machte die Menschen manipulierbar.
Shai hatte Zugang zu großen Mengen von Seelenstein, und sie würde ihn benutzen. Doch oft waren einfachere Methoden sogar noch wirksamer. Immer erwarteten die Leute, dass ein Fälscher für alles und jedes ein Siegel benutzte. Die Erhabenen erzählten Geschichten über dunkle Hexereien und über Fälscher, die jemandem in Schlaf ein Siegel auf die Füße drückten und damit seine Persönlichkeit veränderten, in ihn eindrangen, ihn vergewaltigten.
In Wahrheit war der Seelenstempel oft nur die letzte Zuflucht des Fälschers. Er war zu einfach zu entdecken. Nicht dass ich nicht meine rechte Hand für meine Wesenspräger gäbe …
Fast war sie versucht, einen neuen Präger zu schnitzen, mit dem sie von hier wegkommen könnte. Doch genau das erwartete man von ihr, und es wäre äußerst schwierig, die unzähligen Proben damit zu machen, die nötig waren, bis er richtig wirkte. Wenn sie ihn an ihrem eigenen Arm anwendete, würden die Wachen das sofort berichten, und es würde niemals funktionieren, ihn bei Gaotona einzusetzen.
Und der Einsatz eines Wesensprägers, der nicht vorher ausgiebig getestet worden war, konnte in einer Katastrophe enden. Nein, in ihren Fluchtplänen spielten zwar Seelenstempel eine wichtige Rolle, aber im Wesentlichen würden traditionellere Listen zum Einsatz kommen.
TAG ACHTUNDFÜNFZIG
S hai war fertig, als sie den nächsten Besuch von Frava empfing.
Die Frau blieb in der Tür stehen, und die Wächter schlurften widerstandslos nach draußen, während Hauptmann Tzu ihren Platz einnahm. » Du warst fleißig«, bemerkte Frava.
Shai schaute von ihrem Buch auf. Frava meinte nicht ihre Fortschritte, sondern das Zimmer. Vor Kurzem hatte Shai den Boden verbessert. Es war nicht schwierig gewesen. Der Stein, aus dem der Palast erbaut war, der Steinbruch, die Daten, die Steinmetze – all das fand sich in den Geschichtsbüchern.
» Gefällt es Euch?«, fragte Shai. » Ich finde, der Marmor passt gut zum Kamin.«
Frava drehte sich um und kniff die Augen zusammen. » Ein Kamin ? Woher hast du … Ist dieser Raum nicht größer, als er früher war?«
» Der Vorratsraum nebenan wurde nicht benutzt«, murmelte Shai und wandte sich wieder ihrem Buch zu. » Und die Trennwand zwischen den beiden Zimmern ist erst vor kurzer Zeit eingefügt worden – vor wenigen Jahren. Ich habe die Baugeschichte umgeschrieben, sodass dieser Raum nun der größere der beiden ist und ein Kamin Platz finden konnte.«
Frava schien verblüfft zu sein. » Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass …« Die Frau sah wieder Shai an und machte ihre übliche strenge Miene. » Es fällt mir schwer zu glauben, dass du deine Pflichten ernst nimmst, Fälscherin. Du bist nicht hier, um den Palast umzugestalten, sondern um einen Kaiser zu schaffen.«
» Das Bearbeiten von Seelenstein entspannt mich«, sagte Shai. » Dasselbe gilt für einen Arbeitsbereich, der mich nicht an das Innere eines Schranks erinnert. Ihr werdet Eure Kaiserseele rechtzeitig bekommen, Frava.«
Die Schlichterin schritt durch das Zimmer und betrachtete den Tisch. » Hast du mit dem Seelenstein des Kaisers begonnen?«
» Ich habe mit vielen von ihnen begonnen«, sagte Shai. » Es ist ein sehr komplizierter Prozess. Ich habe über hundert Stempel an Gaotona ausprobiert …«
» An Schlichter Gaotona.«
» An dem alten Mann. Jeder Stempel ist ein kleines Stück des Ganzen. Sobald sie alle funktionieren, werde ich sie zu kleineren, zarteren Mustern umschnitzen. Das wird es mir erlauben, etwa ein Dutzend Proben in einem einzigen Stempel zusammenzufassen.«
» Aber du hast vorhin gesagt, dass du über hundert ausprobiert hast«, sagte Frava und runzelte die Stirn. » Und am Ende willst du nur zwölf davon einsetzen?«
Shai lachte. » Zwölf? Um eine gesamte Seele zu fälschen? Wohl kaum. Dieser letzte Stempel, den Ihr dem Kaiser jeden Morgen aufdrücken müsst, wird wie ein … Herzstück sein, oder wie der Schlussstein eines
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