Die Seele des Königs (German Edition)
verwirrt mich. Nach dem Wenigen, was du mir über diesen Prozess berichtet hast, kann ich noch immer nicht begreifen, warum diese Siegel überhaupt bei mir wirken. Musst du denn nicht die Geschichte eines Menschen genau kennen, damit das Siegel bei ihm hält?«
» Ja, aber nur wenn es Bestand haben soll«, erklärte Shai. » Wie ich schon gesagt habe, geht es um Glaubwürdigkeit.«
» Aber das war vollkommen unglaubwürdig. Ich habe keinen Bruder.«
» Aha. Mal sehen, ob ich es Euch klarmachen kann«, sagte sie und lehnte sich zurück. » Ich schreibe Eure Seele um, damit sie zu der des Kaisers passt – so wie ich die Geschichte dieses Fensters umgeschrieben habe, damit es Bleiglas bekommt. In beiden Fällen ergibt sich die Wirksamkeit aus der Vertrautheit . Der Fensterrahmen weiß, wie ein Bleiglasfenster aussieht, denn es hat einmal eines in ihm gesteckt. Obwohl das neue Fenster nicht genau dem alten entspricht, funktioniert das Siegel, weil der allgemeinen Vorstellung von einem Bleiglasfenster entsprochen wurde.
Ihr habt viel Zeit in der Nähe des Kaisers verbracht. Eure Seele ist mit der seinen vertraut, so wie der Fensterrahmen mit dem Bleiglas vertraut ist. Deswegen wollte ich die Siegel nicht an mir selbst, sondern an jemandem wie Euch ausprobieren. Wenn ich Euch stempele, ist das wie … es ist, als würde ich Eurer Seele ein Stück von etwas geben, dass sie kennen sollte. Es wirkt nur, wenn das Stück sehr klein ist, aber solange das der Fall ist – und solange Eure Seele das Stück als einen vertrauten Teil von Ashravan annimmt –, wird der Stempel für eine kurze Zeit halten, bevor er abgestoßen wird.«
Gaotona betrachtete sie mit Verwirrung im Blick.
» Ich vermute, das klingt für Euch nach abergläubischem Unsinn?«, fragte Shai.
» Es ist … ziemlich mystisch«, erwiderte Gaotona und spreizte die Hände vor sich. » Ein Fensterrahmen, der die ›Vorstellung‹ von Bleiglas kennt? Eine Seele, die das Konzept von einer anderen Seele kennt?«
» Diese Dinge existieren außerhalb von uns selbst«, sagte Shai und bereitete ein weiteres Siegel vor. » Wir denken an Fenster, wir kennen Fenster – das, was sie unserer Ansicht nach sind und was nicht, nimmt im Bereich des Spirituellen eine bestimmte Bedeutung an. In gewisser Weise nehmen sie Leben an. Glaubt es oder auch nicht; ich vermute, das macht keinen Unterschied. Es ist aber eine Tatsache, dass ich diese Siegel an Euch ausprobieren kann, und wenn sie wenigstens eine Minute lang halten, ist das ein sehr guter Hinweis darauf, dass ich etwas richtig gemacht habe.
Eigentlich sollte ich es am Kaiser persönlich ausprobieren, aber in seinem Zustand könnte er mir keine Fragen beantworten. Die Siegel müssen nicht nur halten, sondern auch zusammenwirken, und dazu muss ich wissen, was Ihr fühlt, damit ich die Muster in die richtige Richtung entwickeln kann. Düfte ich jetzt bitte Euren Arm haben?«
» Also gut.« Gaotona fasste sich, und Shai drückte ihm ein weiteres Siegel gegen den Arm. Sie befestigte es mit einer halben Drehung, doch sobald sie den Stempel wegzog, verschwand das Siegel in einer kleinen roten Wolke.
» Verdammt«, sagte Shai.
» Was ist passiert?«, fragte Gaotona und strich sich mit den Fingern über den Arm. Er verschmierte die Tinte darauf; das Siegel war so rasch verschwunden, dass sie nicht einmal in das Muster eingedrungen war. » Was hast du diesmal mit mir gemacht?«
» Gar nichts, wie es scheint«, sagte Shai und suchte den Stempelkopf nach Mängeln ab. Sie fand keine. » Diesen hier habe ich falsch gemacht. Völlig falsch.«
» Worum ging es bei ihm?«
» Um den Grund, warum Ashravan sich einverstanden erklärte, Kaiser zu werden«, sagte Shai. » Brennende Nacht! Ich war mir sicher, dass ich ihn richtig gemacht habe.« Sie schüttelte den Kopf und legte den Stempel beiseite. Anscheinend hatte Ashravan sich nicht als Kaiser angeboten, weil er das tief in ihm liegende Verlangen befriedigen wollte, sich vor seiner Familie zu beweisen und dem fernen, aber langen Schatten seines Bruders zu entkommen.
» Ich kann dir verraten, warum er es getan hat, Fälscherin«, sagte Gaotona.
Sie sah ihn argwöhnisch an. Dieser Mann hat Ashravan ermuntert, den kaiserlichen Thron zu besteigen , dachte Shai. Und deswegen hatte Ashravan ihn gehasst. Glaube ich wenigstens .
» In Ordnung«, sagte sie. » Warum?«
» Er wollte Dinge verändern«, sagte Gaotona. » Im Reich.«
» Davon schreibt er nichts in seinem Tagebuch.«
»
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